Von der Armenbibel zu Myst

Gibt es eine Rückkehr zu Literatur ohne Worte?


von Michael Charlier



"Myst" und "Riven" von Rand und Robin Miller nehmen im Bereich der Computerspiele in jeder Beziehung eine Ausnahmestellung ein. Das gilt zuerst für die Auflage: In den USA ist Myst seit der Makteinführung 1994 nie aus den TopTen verschwunden, und Im letzten Jahr wurde die Zahl von 5 Millionen verkauften Exemplaren überschritten. Entsprechend sieht es mit dem Umsatz aus: Mit über 200 Millionen Dollar ist das Volumen mittlerer Hollywooderfolge erreicht. Bei bisher etwas mehr als zwei Millionen verkauften Exemplaren schließt Riven an diesen Höhenflug an, ohne ihn spektakulär zu übertreffen. Myst und Riven sprechen auch ein anderes Publikum an als die meisten anderen Computerspiele. Doom z.B, das immerhin auch an die zwei Millionen mal abgesetzt worden ist, wird fast ausschließlich von jungen Männern und Jungen gespielt. Abenteuerspiele wie die KingsQuest-Serie von Sierra oder die Strategie und Aufbauspiele des Musters Civilisation oder SimCity gelten ebenfalls als unbestritten männliche Domäne. Ganz anders Myst und Riven - über ein Drittel, einige Informationen deuten sogar auf knapp die Hälfte der Spieler sind Spielerinnen, und sie gehören zumindest in den USA allen Altersstufen an.

Über die Gründe für diesen Erfolg ist schon viel geschrieben worden, die elaborierte Grafik wird da angeführt, die trickreichen Rätselaufgaben, der Einsatz einer Musik, die alle Qualitäten von Filmmusik aufweist und so dazu beiträgt, eine dichte Atmosphäre zu schaffen, wie das sonst nur guten Filmen oder Videoclips gelingt. Ein Clip hält diese Atmosphäre für einige Minuten aufrecht, ein Film selten länger als zwei Stunden. Myst ist auf eine durchschnittliche Spieldauer von 40 Stunden angelegt, Riven angeblich sogar auf 120 Stunden.

Was bringt so viele Menschen dazu, soviel Lebenszeit vor einem Bildschirm zu verbringen, sich dabei auf vielfältige Weise anzustrengen und dafür auch noch Geld zu bezahlen? Die vielfach und auch von mir im Titel wieder angeführte "Wortlosigkeit" von Myst kann es nicht sein, denn sie beruht auf einem Mißverständnis oder einer Täuschung: In keinem Computerspiel haben Bücher, Geschriebenes, Sprache und Worte so große Bedeutung wie in Myst, in wenigen muß man so viel lesen. Der Ansatz bei der "dichten Atmosphäre" führt da schon eher weiter. Myst und Riven appellieren auf eine für mich neuartige Weise an Imaginationswillen und Imaginationskraft des Spielers/Lesers, sie geben der Phantasie Ansatzpunkte und fordern den Verstand heraus, sie verlangen und ermöglichen, daß man sich in eine andere Welt begibt und dort in einer anderen Identität Dinge tut, die nichts mit dem zu tun haben, was man kennt und sonst tut - und doch alle miteinander auf halbwegs einleuchtende Weise zusammenhängen und so einen im Prinzip wortlosen oder jedenfalls über Sprache hinausgehenden Text darstellen, den zu "lesen" das eigentliche Ziel des Spieles ist.

Die Rätselspiele, zu denen Myst und Riven ja auch gehören, irritieren in der Regel durch ihre völlige Zusammenhanglosigkeit. Die Rätsel sind willkürlich über eine dürftige Rahmenhandlung verstreut und fungieren lediglich als Schlüssel zur Öffnung des nächsten Raumes mit dem nächsten Rätsel, sie haben weder mit der Handlung noch miteinander etwas zu tun, und oft sind es nur multimedial aufgepeppte Versionen altbekannter Puzzles.

Einiges davon ist auch noch in Myst zu spüren. Die Rätsel sind zwar über Formanalogien mit den durch sie zu erschließenden Räumen verbunden, von der Sache her aber doch einigermaßen willkürlich. Bei Riven ist das anders. Die Rätsel von Riven sind in ihrer Welt nichts Aufgesetztes und Zufälliges, sie erscheinen auch gar nicht als Rätsel im eigentlichen Sinne, sondern als logische Verhältnisse und Dinge einer anderen Welt, die nun einmal anders sind als die bekannten Dinge, und denen man auf die Spur kommen muß, wenn man in dieser anderen Welt bestehen will oder auch nur herausbekommen will, wie die Bestandteile dieser Welt funktionieren. Gelegentlich findet man Lösungen, bevor man dem zugehörigen Rätsel begegnet ist - eine schöne Gelegenheit sich in der Kunst des Zusammendenkens zu üben. Noch mehr als Myst fordert so Riven nicht den Rätsellöser oder den Detektiv, sondern den Archäologen oder Ethnologen. Oder ein kleines Kind, das die Dinge nimmt, wie sie sind, mit allen spielt, bis es ihnen ihre Funktion oder zumindest eine Brauchbarkeit abgeschaut und abgerungen hat und sie dann als Mittel zu seinen Zwecken verwendet. Was oftmals nicht die Zwecke sind, an die der Hersteller gedacht hat.

Wer Myst oder Riven spielt, übernimmt, ob er will oder nicht, die Hauptrolle in einem als Autographie vorzustellenden Bildungsroman. Das Bildungsprogramm selbst ist zwar noch ziemlich bescheiden, beschränkt sich aber durchaus nicht auf verhältnismäßig einfache Dinge wie das Erlernen eines neuartigen Zahlensystems - es spielt sich sinnigerweise in der einklassigen Volksschule von Jungle-Iland auf Riven ab.

Und das schauen wir uns einmal an. Ich mache zunächst eine Führung über die Insel Myst und zeige dann anhand der Lösung eines Rätsels - dessen Lösung nur den Eingang zu einer anderen Welt voller Rätsel erschließt - die skurrile Natur der Zusammenhänge und Gesetze dieses virtuellen Mikrokosmos.Bei alledem regiert zwar strikte Kausalität im kleinen, aber wenig Linearität im Großen: Die Aufgaben haben zwar logische Struktur, aber wann man welche Aufgabe angeht, bleibt einem selbst überlassen. Und vielleicht haben wir nach der Lösung einer dieser Aufgaben noch einen Moment Zeit, die Atmosphäre auf uns einwirken zu lassen.

DEMO 1: Ein Spaziergang über die Hauptinsel von Myst

So, das ist ja alles ganz schön, kann man mir nun sagen, aber was um Himmels willen hat das mit Literatur zu tun, gar mit Internet-Literatur. Ich beantworte das zunächst einmal ausweichend: Wenn man wie ich drei Jahre lang bei einem Internet-Literatur-Wettbewerb mitgemacht hat, hat man so ziemlich alles, was sich überhaupt auf einen Bildschirm bringen läßt, schon einmal unter dem Etikett "Internet-Literatur" daherkommen sehen - und das meiste davon war bei weitem nicht so gut erzählt und so romanhaft ausgestaltet wie die interaktiv zu erschließende Geschichte um die Geheimnisse von Myst. Auf der anderen Seite erinnere ich mich natürlich noch gut daran, wie dankbar ich beim ersten Wettbewerb für ein Posting von Claudia Klinger im Diskussionsforum war, in dem sie gegenüber den ausufernden Ansprüchen, alles Mögliche zu Literatur zu erklären, schlicht und störrisch darauf bestand, Literatur müsse wohl doch etwas mit Lettern, mit geschriebener, mit in feste Form gebrachter Sprache zu tun haben. Ich habe das damals gerne aufgenommen und auch als einen Teil der Orientierung für die nächsten Wettbewerbe nutzbar gemacht. Aber die Dinge entwickeln sich rundum weiter und erzwingen so, daß man ab und zu etwas dazu lernt.

Eines, was ich dazugelernt habe, ist, daß die Autoren, die sich mit dem hergebrachten Begriff von Literatur als geronnener Sprache gut eingerichtet haben, wenig Interesse an dem neuen Medium zeigen - sieht man einmal von denen ab, die das Internet primär als Mittel des Selbstverlages nutzen. Und diejenigen "Literaturschaffenden", die sich für die digitalen Medien und das Web interessieren, tun das eben deshalb, weil ihnen die in Lettern verfestigte Sprache, die Linearität des im Buchblock eingebundenen Textes und überhaupt die ganze Vorstellung, etwas schwarz auf weiß besitzen und getrost nach Hause tragen zu können, zutiefst suspekt ist. Die meisten davon reagieren in dieser Situation negativ - durch Destruktion von Text und Sprache, durch Erzeugung von Rauschen. In anderen Künsten gibt es gleichlaufende Tendenzen. In einigen Bereichen der Video-Art - und dorthin gehören Myst und Riven allemal - gibt es aber auch konstruktive Ansätze: Nicht das, was ohnehin schon zu fallen scheint, noch weiter destruieren, sondern etwas ganz neues Erzeugen wollen. Vor diesem Hintergrund gesehen wird die Kluft zwischen Literatur und der Bildschirmerzählung mit vorwiegend nicht-sprachlichen Mitteln schon ein gutes Stück schmaler. Und einiges an Differenz zum Bekannten müssen wir schon in Kauf nehmen: Es wäre leichtfertig, die Erwartungen an die "Erzählmaschine" zu nah an das zu binden, was wir entweder von der herkömmlichen Erzählung zwischen Buchdeckeln oder der "Zählmaschine" und ihren mehr oder weniger geglückten Verwendungen zur Produktion ästhetischer Effekte schon kennen. Ob Literatur oder nicht: Daß der Computer mit Myst oder Riven zur "Erzählmaschine" wird, ist nicht zu bestreiten, die narrative Kraft dieser Spiele ist enorm.

Die Bekundungen des Zweifels an der Tragfähigkeit des herkömmlichen Schreibens mit Lettern, wie sie vom "avantgardistischen Flügel" der digitalen Literatur immer wieder zum Ausdruck gebracht werden, reichen mir nicht aus, um die Abstinenz der Literatur im neuen Medium von Erzählformen jeder Art zu begründen. Wenn Zufallselemente eingeführt, die Betrachtungsdauer von Textstücken begrenzt, das Zurückblättern unmöglich gemacht, die Textwahrnehmung auf bestimmte Zeitfenster begrenzt wird und was es da an noise alles gibt, läuft das nur immer wieder auf die Artikulation desselben Ungenügens hinaus, bleibt also sehr theoretisch und für mein Empfinden auch sehr unbefriedigend.

Trotzdem erscheint mir dieses Bewußtsein von Ungenügen durchaus geeignet, den Anknüpfungspunkt für weiteres Nachdenken zu bilden, und wäre es nur deshalb, weil es wahrscheinlich den kleinsten gemeinsamen Nenner darstellt, den Gemeinplatz, auf dem sich alle treffen können. Warum sollten, wenn das Geschriebene als nicht mehr ausreichend empfunden wird, nicht auch Bilder wieder verstärkt in die Kommunikationsebenen einbezogen werden, aus denen sie im Lauf der Jahrhunderte verdrängt wurden? Und wo sollten diese Bilder stattfinden wenn nicht auf dem Bildschirm?

Dabei möchte ich gleich einem Mißverständnis entgegentreten: Es gibt eine populäre Gegenüberstellung von Buch und Bildschirm, die dann im Feuilleton in der Form des Gegensatzpaares Schriftkultur - Bilderwelt abgehandelt wird. Daran ist einiges schief. Bildschirm ist nicht gleich Bildschirm, und zwischen Buch und Fernsehschirm lassen sich mindestens soviel Ähnlichkeiten auffinden wie Unterschiede zwischen Fernsehschirm und Computermonitor. Auch das Fernsehen ist noch sprachgebunden, und Buch und Fernsehen sind gleichermaßen Medien einer assymetrischen Kommunikation, in der das Verhältnis zwischen Sender und Empfänger klar als Gefälle definiert ist. Der Computer allgemein und das Internet insbesondere sind nach wie vor schriftzentriert, der vernetzte Computer hebt den Unterschied zwischen Sender und Empfänger auf, zumindest potentiell, und e-Mail führt zur Wiederbelebung einer Briefkultur, einer durch und durch schriftgebundenen Erscheinung, die man mit dem Untergang des Adels und der Großbourgeoisie für endgültig verschwunden gehalten hatte.

Die Gegenüberstellung Schriftkultur - Bilderwelt greift aber auch noch aus anderen Gründen zu kurz. Es ist nämlich nicht nur die Verwendung der Schrift als Aufzeichnungsmedium für Sprache in eine unübersehbare Krise geraten. Die Gültigkeit von Sprache selbst ist ungewiß geworden, der Glaube daran, daß Sprache, oder daß zumindest unsere Sprache, einen zutreffenden und handlungsorientierenden Reflex von Realität vermittelt, verliert zusehends an Kraft.

Der Rückgang der Bedeutung von Sprache wird im Umfeld des Fernsehschirms vielleicht besonders deutlich, aber er ist nicht auf dieses Umfeld begrenzt. Das Vordringen der Elektronik ist auch nicht ursächlich für diesen Rückgang - beide Tendenzen sind Ausdruck einer tiefer liegenden Entwicklung, die etwas mit der scheinbar rückstandlosen naturwissenschaftlich-technischen Umformung der Welt zu tun hat. Beim Stichwort "Welt" ist allerdings eine beträchtliche Einschränkung fällig: Das Gesagte gilt für die westlichen Industriegesellschaften und ihre Exklaven, anderswo sind andere Strömungen zu beobachten, von wegen Globalisierung.

Ein bemerkenswerter Ausdruck dessen, daß wirklich die Sprachlichkeit und nicht die Schriftlichkeit in der Krise steckt, sind die die Entwicklungen der letzten 10-15 Jahre im Rundfunk. Zunächst war da die Magazinitis, die es für unerträglich erklärte, jemandem mehr als 3 Minuten gesprochenes an einem Stück und Sätze mit mehr als 7 Wörtern Länge zuzumuten. Dann kam die "leichte Welle", repräsentiert von Leuten wie dem Grimme-Preis-gekrönten Friedrich Küppersbusch, denen weniger an den durch Sprache transportierbaren Inhalten, sondern an überraschenden Wendungen, witzigen Effekten oder schlichtweg Kalauern gelegen war - Unterhaltung pur, und das mit schwindenden Ausnahmen zu jedem Thema. Die Steigerung von Küppersbusch im Rundfunk ist dann Wigald Boning im Fernsehen.

Aus der Welle ist inzwischen eine Flut geworden, manche Programme füttern ihre Leser allabendlich mehrere Stunden lang mit Sendungen, in denen Sprache fast nur noch Material für Spielerei darstellt. Von der drei-Minuten-Grenze ist da nicht mehr die Rede: Das Nichts bedarf keiner musikalischen Unterbrechung und Auflockerung. Seit einiger Zeit fällt mir auf, daß auch die verbliebenen Informationssendungen einen Virus haben: Es gibt immer weniger Erklärstücke, nach denen man etwas erfahren hat, oder gelernt hat, sondern das Radio spielt Fernsehen: Der Reporter berichtet, wie er durch die Tür in dem alten grauen Gebäude geht, daß die Dielen knarren, und der Gesprächspartner massig und unrasiert ist, fast etwas bedrohlich ausieht, aber trotzdem eine sympathische Stimme hat. Und dann sind die 3 Minuten auch schon zu Ende, der Dudelfunk geht weiter, niemand hat etwas erfahren und keiner beschwert sich.

Da Literatur der Punkt ist, um den alles kreisen sollte, könnte ich hier jetzt noch ein paar Bemerkungen zur Entwicklung des Sprechtheaters anfügen, das niemanden mehr anlockt und die wenigen, die trotzdem kommen, zu vergraulen sucht, es brächte aber nichts neues mehr: Den Knacks hat nicht die Schriftlichkeit, sondern die darunterliegende Sprache und das Denken, das sich in dieser Sprache ausdrückte und durch sie gebildet hat. Wir glauben immer weniger daran, daß unsere hergebrachte sprachlich-einteilende Haltung gegenüber der Welt dem Stand der Dinge gerecht wird. Dreihundert Jahre lang sah es so aus, als wären Welt und sprachliche Beschreibung zur Kongruenz zu bringen, ein knappes Jahrhundert lang schien diese Kongruenz ereichbar, wenn nicht sogar erreicht zu sein - und seit Beginn dieses Jahrhunderts fiel eine Gewissheit nach der anderen in Scherben. Heute hantieren wir unentwegt mit Dingen, die wir kaum benennen und gewiß nicht beschreiben können, und wir tun das mit der größten Selbstverständlichkeit. Leider können aber auch die Fachleute die Dinge nicht mehr beschreiben, und zu jedem wissenschaftlich völlig einwandfrei erarbeiteten Gutachten läßt sich das ebenso überzeugend zustande gekommene Gegengutachten aufbieten. Nicht nur die Umgangssprache, auch die Wissenschaftssprache funktioniert nicht mehr. Unsere Sprache und ihr Weltbild verlieren an Fähigkeit, unsere Welt zu beschreiben und abzubilden.

Nach einer ein halbes Jahrhundert dauernden Schrecksekunde sind wir nun dabei, den ganzen abendländischen Erkenntnisweg, die Gegenüberstellung von Mensch und Welt, von Subjekt und Objekt zu überprüfen und uns von der hergebrachten Subjektvorstellung zu verabschieden. Ich will gar nicht die Frage aufwerfen, inwieweit da möglicherweise dem Gesetz des Pendels folgend über das Ziel hinausgeschossen wird, Tatsache ist jedenfalls: während diese Entwicklung bisher vor allem die Eliten beschäftigte und verwirrte, erreichen ihre reverberations jetzt den Marktplatz und ermutigen dort jede Menge Clowns zu den absonderlichsten Vorführungen. Die Verwirrung ist beträchtlich, und die bemerkenswerteste Folge für Spracharbeiter besteht darin: Keiner hört mehr zu, keiner liest noch aufmerksam.

Für den Fortgang der Dinge kann man sich eine gespaltene Entwicklung vorstellen. Auf der einen Seite Versuche zu einer immer exakteren Ausbildung formaler Sprachen, mit denen wir weiterhin versuchen, Naturgesetzlichkeiten operationalisierbar zu machen und Symbolmaschinen zu programmieren - auf der anderen Seite Multimedia für die Masse, bunt, laut und schrecklich dumm, SAT1 auf allen Kanälen, auch denen des Internets. Denn daß das Unterhaltungsbedürfnis von nennenswerten Gruppen sich den ästhetischen und literarischen Werten der Algorithmen zuwendet, in denen Friedrich Kittler die Literatur des Internet zu suchen scheint, halte ich für extrem unwahrscheinlich.

In dieser wenig erfreulichen Situation betrachte ich Erscheinungen wie Myst und Riven, in denen Bild und Sprache, nonverbale, symbolische und sprachliche Zeichensysteme in einer heute ungewohnten Zusammensetzung auftreten, mit der allergrößten Neugier. Dabei ist das "heute ungewohnte Zusammensetzung" für mich das Stichwort, von dem aus ich endlich auf die Armenbibel zu sprechen kommen kann und darauf, daß es auch in unserer Kultur eine Periode gab, in der Sprache und Bild bei weitem nicht als gegensätzlich, sondern als komplementär verstanden wurden - mit einer weiten Zone unscharfer Übergänge zwischen beiden. Statt einer Periode sollte man vielleicht besser von einem Strang sprechen, von einer Traditionslinie, die zwar mit dem Vordringen von Schriftkultur, Aufklärung und wissenschaftlich-technischem Denken immer dünner geworden, aber nie ganz abgerissen ist. In dieser Tradition stehen Bild und Text gleichberechtigt nebeneinander, auch wenn sie durchaus nicht gleiche Funktionen erfüllen.

Nun wird es wieder höchste Zeit für ein paar Bilder.

-> Vielfarbige Prunkbibel und schlichter Holzschnitt

Zu der Prunkbibel mit vollem Text und wenigen, aber höchst kostbar ausgeführten Bildern (Illuminationen) ist hier nichts zu sagen um so mehr zum billigen Druck der Armenbibel, bei der Bild und Text gerade im umgekehrten Verhältnis zueinander stehen. Der Text ist auf Stichworte und Kernsätze reduziert und hat die Aufgabe, denen, die ein paar Wörter lesen können - und mehr konnte der Landklerus auch nicht immer - Anknüpfungspunkte zu geben, um die Darstellungen mit den aus der Verkündigung bekannten Ereignissen und Erzählungen zu verknüpfen, besser gesagt, um sich wieder an sie zu erinnern.

Die Armenbibeln waren nicht immer so schlicht wie dieser frühe niederländische Druck, einige davon kommen dem, was wir heute unter "Bildschirmkunst" verstehen, schon recht nahe.

-> Glasfenster mit biblischen Szenen aus der Kathedrale von Laon

Es gab - mit diesen Lichtbildern als einem wesentlichem Element - schon früh multimediale Environments mit Bild und Sound im Mehrkanalverfahren (Monteverdis Marienvesper z.B.), mit den bewegten Elementen der liturgischen Choreographie und möglicherweise unter dem Einfluß leicht halluzinogener Substanzen aus den dichten Weihrauchwolken - dieses Multimedium will erst noch neu erfunden sein, von der darin inbegriffenen Community-Komponente ganz zu schweigen.

-> Lichterscheinung in der Kathedrale von Palma

 

  1. Drei Szenen aus Totentänzen

Bis zum Barock und darüberhinaus haben Bilder starke und oft mehrschichtige erzählende Komponenten. Das geht vom geschäftsmäßig agierenden Tot, der auf dem Schlachtfeld seinen Job tut, über den Tod, der sich an eines der wegen ihrer Grobheit berüchtigten Waschweiber heranmacht und tatsächlich Probleme bekommt - deren er sicher Herr wird - bis zu dem batmanmäßig daherflatternden Gerippe, das der schlafenden Amme das Kind aus der Wiege raubt und dem Leben ein Ende setzt, kaum daß es beginnen wollte.

Einige dieser Erzählungen mit zahlreichen Bedeutungsschichten und Bildern hinter den Bildern sind tief ins kollektive Gedächtnis eingesunken.

  1. Breughels Turmbau zu Babel

Andere Erzählbilder wurden schon zur Zeit ihrer Entstehung mit einer Oberfläche versehen, die nicht zu der eigentlichen Erzählung des Bildes paßt, ihr vielleicht sogar auf frappierende Weise widerspricht, wie hier bei Breughel, der noch einmal die alte Geschichte von der Vergeblichkeit menschlichen Schaffens und Wollens und der bestraften Hybris zu erzählen vorgibt und doch ganz im Geist der beginnenden Moderne so fasziniert von den Bauhandwerkern und ihren ingeniösen Erfindungen ist, daß er die allergrößte Sorgfalt auf die Schilderung ihrer Industrie legt.

Wie der Maler sehen wir im Bild der Großbaustelle von Babylon nicht mehr die Zweifelhaftigkeit eines vermessenen Strebens, sondern eher die Fülle des historischen Quellenmaterials über spätmittelaltrliches Bauhandwerk. Was nicht heißt, daß der Gedanke als solcher obsolet geworden sei, und er kann auch heute noch auf vergleichbare Weise durch ein "Bild hinter dem Bild" zum Ausdruck gebracht werden, wie an einer modernen Darstellung des Babel-Projektes unschwer zu ersehen ist - einem von vielen Bildern, denen neuerdings wieder emblematische Kraft zuzuwachsen scheint, wo die Sprache an Bedeutung verliert.

-> "Sarkophag" des Reaktors von Tschernobyl

Ich will zum Schluß und zur wohlverdienten Demonstration einiger Szenen aus Riven kommen. Wo das Bild des Sarkophages von Tschernobyl, wenn es denn schon in literarischen Kategorien ausgedrückt sein soll, dem wie schon zu Abraham a Santa Claras Zeiten populär gewordenen Genre der Straf- und Bußpredigten zuzurechnen wäre, gehörte Riven eher zur Erbauungsliteraur. Das in mehrere Alternativen aufgeteilte Endspiel besteht dabei auf eine zunächst etwas naiv anmutende Weise darauf, daß man Gut und Böse unterscheiden könne - und rechnet in einem durch und durch postmodernen Sinne mit der Möglichkeit, daß man sich dabei vertut und das Böse erst erkennt, wenn man ihm zum Sieg verholfen hat.

Demonstration Riven: Die "Kirchenfenster" erzählen die Unheilsgeschichte Gehns und "Wir lernen die Zahlzeichen von 1 5" in der Grundschule von Riven

Die Ausdrucksfähigkeit des Erzählens in Bildern, wie es uns in Riven begegnet erscheint noch etwas begrenzt, doch künftige Steigerungen sind nicht auszuschließen, sogar eher wahrscheinlich, auch wenn von den Autoren selbst inzwischen der eine das Schreiben von Büchern begonnen hat, der andere Filme machen will. Ebenfalls nicht auszuschließen ist, daß die in der Rückwendung zum Bildhaften auch liegenden regressiven Tendenzen, sollte ihnen freier Lauf gelassen werden, uns mehr Unannehmlichkeiten bereiten als das Übermaß der Abstraktion, unter dem wir heute leiden und das so vielen die Sprache und das Schreiben verleidet hat.



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