Der Cyborg und das BEAST
Bemerkungen zu Jacques Servins dämonischem Netz-Werk


von Christiane Heibach


Zu keiner seiner Erfindungen hat der Mensch je eine so enge und ambivalente Beziehung entwickelt wie zum Computer - von emphatischer Bewunderung bis zu erschreckter Dämonisierung reicht die breit angelegte Emotionenskala. Das mag daran liegen, daß der Computer als erste "Maschine" Aufgaben übernehmen kann, die bis dato dem Menschen vorbehalten waren: Rechnen, Erinnern, Planen, Organisieren - und diese Aufgaben erfüllt er in einer Geschwindigkeit und Perfektion, wie sie der Mensch nicht zu leisten im Stande ist. Diese Prozesse vollziehen sich zudem auf Ebenen, die der Computeranwender niemals zu Gesicht bekommt - die Maschine entwickelt ein Eigenleben, das sich dem (normal)menschlichen Zugriff entzieht. Dies sind Provokationen, die nicht unbeantwortet bleiben können - und so erfand der Mensch die digitale Kunst. 

Wie jede künstlerische Bewegung des 20. Jahrhunderts sucht auch ihr jüngster Sproß, die Abgründe, Grenzen und Überschreitungsmöglichkeiten ihres Mediums auszuloten - teilweise noch recht hilflos in der Fülle von Programmen herumtastend, teilweise aber auch schon in hochkomplexer und reflektierter Weise. Jacques Servins Projekt BEASTTM gehört - obwohl es nach zwei Jahren Netzdasein fast schon "historisch" zu nennen ist - eindeutig zur letzteren Kategorie.

Schon die einleitenden Seiten signalisieren das Thema: Ist der Mensch ein computerbestimmter Cyborg? Die TM-Zeichen-Invasion der Eingangssequenzen erinnert bedenklich an den Kampf der Software-Firmen um Marktanteile, in dem bald jedes Wort - WordTM - markengeschützt wird, und die Diktion der scheinbar erklärenden Sätze ähnelt den oft kryptischen Anweisungen in Anwenderhandbüchern: "The options below will help you to investigate options which will in turn orient you to different configurations of options. Do not select options which will orient you towards different configurations than those to which you are inclined by nature." Die alte Natur-contra-Kultur-Thematik also? Ja und nein. Denn einerseits liefert Servin sein "Publikum" den java-programmierten hypermedialen Effekten aus, andererseits eröffnet er ihm dadurch neue Dimensionen der Interaktivität. BEAST ist meines Wissens eines der wenigen Netzkunstwerke, das eine Form gefunden hat, unterschiedliche Medien (Text, Ton und Bild) nicht nur nebeneinander zu stellen, sondern miteinander interagieren zu lassen - in gegenseitiger Abhängigkeit voneinander.

Verläßt der Nutzer die Eingangsseiten, erscheinen fünf Karten - Tarotkarten nachempfunden - "War", "System", "City", "Future", "Peace". Der Klick auf eine der Karten löst rege Ladetätigkeit aus, bunt unterlegte, fingierte Systemmeldungen flackern über den Bildschirm, bis schließlich weißer Text auf schwarzem Grund erscheint. Die Abfolge der Textsegmente - Zitate von Walter Benjamin, Gottfried Benn, aber auch Abschnitte aus fiktionalen Texten sowie Einzelsätze von Jacques Servin selbst - funktioniert computergesteuert, der Inhalt des "Initialtextes" jedoch ist dem Thema der angeklickten Karte eindeutig zugeordnet. Immer neue Textsegmente erscheinen - allerdings nur begrenzte Zeit, denn passives Verhalten des Lesers wird mit einer unangenehme Konsequenzen ankündigenden Systemmeldung bestraft, die diesen zur dringenden Aktion auffordert. Klickt man auf ein Textsegment, so nimmt der nun folgende Abschnitt das inhaltliche Thema des vorangegangen auf - jedoch bleibt kaum Zeit zum Lesen, denn die Zitatesammlung schreibt sich selbst zu schnell fort. 

Die begleitenden Tonsequenzen sind vertraut: der "Begrüßungssound" von Windows, etwas, das verdächtig nach Toilettenspülung klingt, Hundebellen, Vogelgezwitscher - Laute des alltäglichen Lebens. Nach einiger Zeit, in der der BEAST-Neuling verzweifelt mit den Textsegmenten und Systemwarnungen kämpft, öffnet sich ein mit der Maus navigierbares dreidimensionales Fenster mit "floating images" - je nach vorangegangenem Textverlauf erscheinen bestimmte, den Texten zugeordnete Symbole auf einem - themengebunden variierenden - Hintergrund. Klickt man ein Symbol an, wird die Tonuntermalung durch eine dem Bild entsprechende Geräuschkulisse ergänzt (das Lokomotivensymbol erzeugt z.B. typische Zuggeräusche), ein entsprechendes Textsegment generiert sich gleichzeitig. So besteht eine komplexe Interaktion der verwendeten Medien, die der schon etwas geübtere Nutzer nach einiger Zeit tatsächlich bewußt steuern kann.

Doch BEAST ist auch ein Beispiel dafür, daß ausgefeilte Technikanwendung nicht notwendigerweise auf Kosten der inhaltlichen "Substanz" gehen muß. Die Textzitate wie die Gestaltung der magischen Bildwelt modulieren die Mensch-Maschine-Problematik - plakative Illustrationen und Symbole aus mystischen Kontexten schweben im virtuellen Fenster mit fliessender Leichtigkeit an Bauplänen und Abbildungen technischer Geräte vorbei, während die Textsegmente die kritisch reflektierende Rolle übernehmen. Das Symbol der Kanone kann so folgendes Zitat aufrufen: "Whereas malfunctions like fear arise from the friction of dried out humors or feelings, there are other malfunctions that arise from an extended excess of interhumoral liquids. [...]" (Geoffroi von Benthaus, "Discrete Psychology in the Nuclear Age"). Das Kriegsgerät wird mit einer biopsychischen Erklärung für Emotionen konfrontiert, die damit als Motivation zur Herstellung von Waffen entlarvt werden.

Der zunächst eindeutig erscheinende Titelbegriff bekommt damit eine ambivalente Bedeutung: Zwar verselbständigen sich die vom Menschen geschaffenen Geräte - was Servin den Benutzer auch kräftig spüren läßt - der Ursprung ihrer Existenz aber liegt in den Tiefen und Untiefen menschlichen Denkens und Fühlens. Esoterik, reflektierende Abstraktion und die Tendenz zur Schaffung organisierender (und gleichzeitig chaotisierender) Technologien sind nur verschiedene Artikulationsweisen des Biests im Menschen. So navigiert man durch die Paradoxie einer mit der extremen Synchronik medialer Interaktion dargestellten Mensch-Maschine-Historie und wird mit (fast) allen Sinnen in die emotionale, tiefenpsychologische und reflexive Komplexität dieser Beziehung gestoßen - zumal man sie nicht nur distanziert als Sinngehalt eines Kunstwerks wahrnimmt, sondern sich gleichzeitig in ihr befindet, sich ihr sogar ausliefert. Abstürze des eigenen Computers gehören somit zur (ungewollten?) Ästhetik dieser sich in der Tat biestig gebärdenden Datenkunst.

Jacques Servin, Programmierer und Autor zweier Science Fiction-Romane, erlangte durch seine Manipulation des Computerspiels SimCopter Berühmtheit. Er programmierte - angeblich im Auftrag des künstlerischen Computer-Sabotage-"Geheimbundes" rtmark - knackige männliche Sims in engen Badeanzügen zwischen die vorwiegend weiblichen Protagonisten des Spiels. Wild alles küssend, was ihnen in den Weg kam - einschließlich einander - sollten sie die Selbstgefälligkeit testosterongeladener heterosexueller Computerspieler irritieren. Auch BEAST zeigt deutlich Spuren subversiver Tendenzen: Die Dämonisierung des Computers als Bestie, dem der Benutzer ausgeliefert ist, wird durch die ästhetische Ausstrahlung der interagierenden Medien unterlaufen. Mit zunehmender Gewöhnung an den "kognitiven Overkill", dem sich der Neuling zunächst ausgesetzt fühlt, steigt auch das Gefühl der eigenen Macht dem System gegenüber. Eine Art cyborgische Harmonie zwischen Mensch und Maschine stellt sich ein und nimmt vereinfachenden Polarisierungen den Wind aus den Segeln.

BEAST könnte als konstruktivistische Variante der Geschichte vom schönen Menschen und dem häßlichen Monster gelten: Es liegt am Menschen, ob er die Geduld und den Willen aufbringt, sich auf dieses Werk einzulassen und seine Ästhetik wahrzunehmen. Nur er kann die Harmonie in sich herstellen, die aber niemals zum Dauerzustand, zum "Happy End" führt - allein schon die Systemabstürze stellen das Kräfteverhältnis immer wieder in Frage. Auch hier gibt es keinen stabilen Zustand des Gleichgewichts - nur Werden.

BEAST beruht zwar auf einem Hypertextsystem, geht aber weit über das simple Node/Link-Modell hinaus und läßt ahnen, daß die derzeit dominierende Hypertextstruktur tatsächlich nur eine Art Kinderkrankheit auf dem Weg zu einem "humaneren" (Servin) - das heißt letztlich interaktiveren - Umgang mit dem neuen Medium darstellen könnte. Obwohl als Work-in-Progress konzipiert, wurden die in Servins eigenem Statement zu BEAST angekündigten Weiterentwicklungen sowie die eigene Domain nie verwirklicht. Jacques Servin selbst ist seit einiger Zeit aus der Netzkunstszene verschwunden - schade, denn sie würde ihn dringend brauchen.


BEAST ist - neben der hier angegebenen Linkadresse noch unter einer weiteren Adresse zugänglich: http://www.pinwand.mda.de/beast/