Oszillationen // Netzkunst / Netzliteratur
Vortrag in der Reihe "Tell.net" der Stadtbücherei Stuttgart am 10. Oktober 2002

von Christiane Heibach

 

1. Medien und Kultur
2. Die Stärken des Netzes 
3. Netzkunst I:  Produktionsästhetik
4. Netzkunst II: Darstellungsästhetik
5. Netzkunst III: Medienästhetik
6. Oszillation als kultureller Prozess


1. Medien und Kultur
Kommunikations- und Informationstechnologien entwickeln sich - wie der spanische Soziologe Manuel Castells in seiner umfassenden Untersuchung "Die Netzwerkgesellschaft" feststellt - niemals unabhängig von den gesellschaftlichen Bedingungen.[1]
Die vergangenen Jahrhunderte waren geprägt von zwei unterschiedlichen Typen von technischen Medien: Auf der einen Seite stehen die individuellen Kommunikationsmedien wie Telephon und Telefax, die zwei Gesprächspartner miteinander über Raumgrenzen hinweg verbinden; auf der anderen Seite findet man die massenmedialen Informationsmedien, die durch eine weitgehend klare Sender-Empfänger-Struktur geprägt sind - zu ihnen gehören das Buch sowie Radio, Film und Fernsehen. Mit dieser medialen Zweiteilung gehen bestimmte kulturelle Paradigmen einher: Wie der Medienphilosoph Marshall McLuhan in seinen Essays immer wieder betont hat, verändert jedes neue Medium die Gesellschaft grundlegend, andererseits jedoch führen bestimmte Bedürfnisse dazu, dass sich neue Medien überhaupt erst durchsetzen.[2] Medien und Gesellschaft stehen in einem engen evolutionären Zusammenhang.
Analysiert werden können diese Entwicklungen jedoch meist erst, nachdem sich ein Medium kulturell etabliert hat. Für die Erfindung des Buchdrucks ist dies z.B. eingehend untersucht worden.[3] Sie hatte weitreichende Konsequenzen für die Formen der Kommunikation und der Wissensvermittlung der westlichen Gesellschaft. So wurde die mündliche, hierarchisch organisierte Weitergabe von Wissen über direkte Kommunikation, wie sie im Mittelalter vorherrschte, abgelöst durch interaktionsarme Formen der Kommunikation. Dafür waren jedoch grundlegende kulturelle Veränderungen vonnöten: Die Möglichkeiten des Buchdrucks lösten z.B. das Wissen von der Überlieferung ab. Galt im Mittelalter nur das als Wissen, was über autorisierte Quellen überliefert war, wurde durch die Massenproduktion von Büchern das Wissen autonom, löste sich von göttlichen Autoritäten und machte den Menschen zur Wissensquelle: Der individuelle Autor wurde geboren.[4]   Damit jedoch das individuelle Wissen an andere vermittelt werden konnte - noch dazu über eine sehr interaktionsarme Kommmunikationsform - mussten jedoch erst Standards entwickelt werden: Wie erklärt man z.B. die Geheimnisse der Pflanzenkunde, ohne dass derjenige vor einem steht und man ihm die Pflanzen zeigen kann? Also musste die eigene Wahrnehmung so objektiviert werden, dass sie von anderen nachvollzogen werden konnte: sowohl in Beschreibungen als auch in Abbildungen, die nach bestimmten, erst zu entwickelnden Kriterien aufgebaut waren - die Zentralperspektive setzte sich durch,[5] Kategorisierungs- und Klassifizierungskriterien mussten entwickelt werden. Die Rezipienten wiederum waren gezwungen zu lernen, mit diesen Standards umzugehen. Was für uns heute selbstverständlich ist - z.B. die Gliederung eines Sachbuchs durch Inhaltsverzeichnis, Kapitel, Überschriften, Indizierungen, aber auch  Abbildungen mit Beschriftungen etc., bildete sich erst in einem langwierigen Prozess heraus. Somit hatte der Buchdruck sowohl kulturelle Veränderungen in bezug auf die Wahrnehmungsformen als auch auf die Kommunikationsformen zur Folge. Wissensvermittlung fand nicht mehr primär im face-to-face-Gespräch statt, sondern im interaktionsarmen Medium Buch - und das hat sich bis heute nicht geändert.
Die Durchsetzung eines Mediums geht dann einher mit der Prämierung bestimmter Formen der Kommunikation und der Informationsgenerierung, -darstellung und -verarbeitung. Dass die westliche Gesellschaft das Buch nach wie vor als Hort der Bildung und als paradigmatische Form der Wissensvermittlung ansieht, zeigte sich erst jüngst in den Diskussionen um die Ergebnisse der PISA-Studie. Nach wie vor beherrschen die Standards der massenmedialen Kommunikation und Wissensvermittlung die Gesellschaft, während die Formen der individuellen interaktionsintensiven Kommunikation eher in den Hintergrund gerückt sind bzw. andere Funktionen, meist privater oder inoffizieller Natur, übernommen haben.

Welche Rolle spielt nun das Internet in diesem etablierten Medienverbund?Zweifellos steht es derzeit erst am Beginn seiner Entwicklung. Dennoch scheint sich abzuzeichnen, dass es - ähnlich wie damals der Buchdruck - grundlegende Veränderungen in der gesellschaftlichen Organisation zeitigen könnte. Dass Manuel Castells seinem Kompendium den Titel "Die Netzwerkgesellschaft" gegeben hat, leitet sich aus dieser zu beobachtenden Tendenz ab. Auch die Rede von der Informationsgesellschaft, oder richtiger: von der informationellen Gesellschaft, die der Industriegesellschaft als Alternative gegenübergestellt wird,[6] hängt eng mit der Entwicklung dieses neuen Mediums zusammen.
Tatsächlich unterscheidet sich das Netz grundlegend von den bisher bekannten technischen Medien: Zunächst ist es sowohl ein Kommunikations- als auch ein Informationsmedium, arbeitet aber unter anderen Bedingungen als die etablierten Medien. Aufgrund seiner dezentralen Struktur gibt es prinzipiell keine Beschränkungen und Kontrollmechanismen, was die individuelle Nutzung betrifft. Das vielleicht grundlegendste Merkmal besteht darin, dass eine Rollenflexibilität gewährleistet wird: Wer empfängt, kann gleichzeitig auch senden und umgekehrt. Diese Offenheit steht völlig gegen die Prinzipien, die die klassischen Massenmedien etabliert haben; ebensowenig wie sie den Regeln der individuellen Kommunikationsmedien entspricht, die stets einen Charakter von privater Adressiertheit haben (auch wenn sie beruflich genutzt werden). Das Netz macht einerseits die Kommunikation öffentlich,  individualisiert aber andererseits die Informationsflüsse - mit möglicherweise weitreichenden kulturellen Konsequenzen.

Ähnlich wie beim Buchdruck - bei dem es ca. 100 Jahre gedauert hat, bis sich die Gestaltungsstandards herausgebildet haben, die wir bis heute kennen - lässt sich jedoch beobachten, dass es massive Schwierigkeiten bei der konkreten Ausgestaltung der spezifischen kulturellen Funktionen des Internets gibt. Wer kennt nicht die Klagen (und hat auch schon zeitweise in diese eingestimmt), die sich z.B. mit dem Informationsangebot des World Wide Webs verbinden: Mangelnde Strukturierung der Informationsmenge, fehlende Qualitäts- und Kontrollkriterien, unübersichtliche Navigationen, schlecht gestaltete Webseiten, fehlende technische Standards in bezug auf Software (man denke nur an die unzähligen Plug-Ins, die notwendig sind, um avanciertere Webseiten zu betrachten), usw. Auch die Kommunikationsmöglichkeiten sind letztlich noch ausgesprochen reduziert. Diese Mängel bestehen - kein Zweifel. Doch sie stellen vermutlich nicht das Medium Internet in Frage, sondern deuten darauf hin, dass wir es bisher noch nicht die notwendigen Kompetenzen herausgebildet haben, um den Anforderungen, die das Medium an uns stellt, gerecht zu werden - ja, zum Teil wissen wir bisher noch nicht, welche kulturelle Funktion das Netz überhaupt in Zukunft übernehmen kann.[7] Damit das Internet tatsächlich verändernd auf die Kultur einwirken und eine Netzwerkgesellschaft entstehen kann, muss es sich so etabliert haben, dass seine Stärken voll entwickelt und gesellschaftlich akzeptiert werden. Erst dann können Oszillationsprozesse in Gang gesetzt werden, die verändernd auf die Gesellschaft wirken - darauf komme ich später nochmal zu sprechen.

2. Die Stärken des Netzes
Die Stärken des Internets liegen - wie schon oben angedeutet - einerseits in seinen Kommunikationsmöglichkeiten, die extrem schnell - entweder synchron oder asynchron - funktionieren, und die sowohl bidirektionale Individual- als auch polydirektionale Gruppenkommunikationsformen ermöglichen. Andererseits ist das Netz auch ein Informationsmedium, das den schnellen Zugriff auf Datenmengen erlaubt, die mit den Möglichkeiten des Mediums dargestellt und organisiert werden können, woraus neue Dateninterpretationsformen hervorgehen. Beide Eigenschaften jedoch entwickeln andere Charakteristika als wir sie aus den traditionellen Medien kennen, da die Struktur des Mediums andere Anforderungen stellt.

Vernetzte Kommunikation
Die zeit- und ortsunabhängigen, bi- oder polydirektionalen Kommunikationsmöglichkeiten führen dazu, dass Computernetzwerke für die gemeinsame, dezentral organisierte Arbeit zwischen Menschen an verschiedenen Orten genutzt werden. In Unternehmen gewinnen Formen der vernetzten Kooperation zunehmend an Bedeutung, die Forschung und Entwicklung für Software-Programme, die dies möglichst effektiv und komfortabel gestalten sollen, läuft auf Hochtouren. Im World Wide Web gibt es noch nicht allzuviele Möglichkeiten, vernetzt zu arbeiten - dies ändert sich langsam. Web-Logs ermöglichen eine relativ offene Form der Kommunikation, indem Kommentarfunktionen angeboten werden oder von vornherein offene Blogs eingerichtet werden, an die jeder eine Nachricht schicken kann. Sie sind ein gutes Beispiel für die Tendenz, Individual- oder Gruppenkommunikationen öffentlich zu machen. Noch interessanter erscheinen mir jedoch die Möglichkeiten, die durch  Wiki-Server eröffnet werden: Wiki-Webseiten können zur Bearbeitung für alle freigegeben werden. Mit ein klein wenig Einarbeitung kann dort jeder seine Informationen und Kommentare hinzufügen und die Seiten bearbeiten, ohne dass die Veränderungen personell gekennzeichnet werden.

Diese Formen der Kommunikation und der Kollaboration scheinen die Stärken der Computernetzwerke auszumachen. Jedoch wird relativ schnell deutlich, dass die Netzkommunikation - verglichen insbesondere mit der face-to-face-Kommunikation - extrem reduziert ist. Der Code, über den Kommunikation im Netz nach wie vor in den meisten Fällen läuft, ist die geschriebene Sprache. Weder hört man die Stimme des anderen noch nimmt man ihn in seinem Mimik, seiner Gestik, seiner Stimmmodulation wahr. Insbesondere bei der Bearbeitung komplexer Aufgaben ist dies von Nachteil. Ganz deutlich wird die noch unausgereifte Technologie am Beispiel von Gruppenchats. Die Darstellung der einzelnen Beiträge erfolgt streng linear, je nach Zeitpunkt des Eingangs, ohne dass darauf Rücksicht genommen wird, wer auf welche Aussage reagiert hat. Das macht Chats für Beobachter, aber auch für Beteiligte häufig unübersichtlich und schwer nachvollziehbar.  Derartige Nachteile verdeutlichen, dass wir mit der Entwicklung der Möglichkeiten erst am Anfang stehen. Paradigmatisch für die Gestaltung der Kommunikation und auch der technischen Hilfsmittel sind hier häufig noch die alten Medien - die Prinzipien des face-to-face-Gesprächs oder der Briefkommunikation werden ins Netz übertragen. Erst langsam bilden sich eigene Formen heraus - am weitesten fortgeschritten ist dies wohl bisher im Bereich der E-Mail, in der es mittlerweile von den Benutzergemeinden gesetzte Standards gibt (wie keine HTML-Mails zu versenden, keine Attachments an Mailinglisten zu schicken, bestimmte Formalia einzuhalten, sich kurz zu fassen, etc.) und die sich inzwischen neben Telephon, Fax und Brief als schnelles, asynchrones Kommunikationsmedium eine eigene Existenzberechtigung geschaffen hat.

Es liegt jedoch nahe festzustellen, dass sich netzspezifische Kommunikationsformen bisher noch nicht in der Weise kulturell etabliert haben, wie wir es von den anderen Medien her kennen. Ein Indiz dafür ist, dass jeder Chatroom, jede Mailingliste oder Newsgroup ihre eigenen Regelwerke formuliert. Für die Verwendung anderer technischer Medien oder im face-to-face-Gespräch brauchen wir dies nicht mehr. Hier haben wir deren Funktionsweisen völlig internalisiert, so dass es überflüssig ist, die Regeln explizit zu formulieren. Derzeit haben wir - vielleicht mit Ausnahme der E-Mail - also weder klare kulturelle Funktionen der vernetzten Kommunikationsmöglichkeiten definiert noch wirklich gut funktionierende Formen gefunden, die den Leistungen der anderen Medien nahekommen. Das bedeutet jedoch nicht, dass das Netz deswegen untauglich ist, sondern es heißt vor allem, dass wir weiterhin intensiv an den Gestaltungsmöglichkeiten arbeiten müssen. Bis sich ähnliche Standards etabliert haben, wie wir sie aus den anderen Medien kennen, wird vermutlich noch einige Zeit vergehen.


Vernetzte Information
Auf einer anderen Ebene finden wir ähnliche Probleme in der Informationsorganisation und -darstellung im World Wide Web. Müßig zu betonen, dass sich der Computer materiell wesentlich vom Buch unterscheidet - insbesondere darin, dass er Daten nach vorgegebenen Paradigmen (sprich: Softwareprogrammen) interpretieren kann. Das, was also am Bildschirm dargestellt wird, sind schon interpretierte Daten, auch die Browser, die man für das WWW nutzt, sind Interpretationsprogramme. Für den normalen Benutzer sind die Kriterien, nach denen die Daten dargestellt werden, nicht durchschaubar. Wie jedoch Informationen medienspezifisch aufbereitet werden können, ist nach wie vor ein ungelöstes Problem. Das Feld der Informationsvisualisierung steht paradigmatisch für Forschungen in diesem Bereich. Die Geisteswissenschaften tun sich hier besonders schwer: Sie sind meist ausgesprochen textlastig, da sie sich gemeinsam mit dem Medium Buch entwickelt haben, und können sich vorerst kaum von Textwüsten lösen - allerdings (und diese Erfahrung werden viele von Ihnen gemacht haben) scheint der Bildschirm nicht das adäquate Medium für intensives Lesen zu sein.
Ein weiterer Aspekt, der gleichzeitig zu den Stärken des Netzes gehört, ist in unserer Wahrnehmung aber nach wie vor ein Problem: Die fehlenden Qualitätsstandards. Jeder, der über die entsprechende technische Ausrüstung verfügt, kann Informationen ins Netz stellen - jedoch fällt das zentrale Regulativ, über das die Massenmedien verfügen, weg. Es gibt für den Benutzer zunächst keine sichtbaren Kriterien, nach denen er den Wert der Informationsmassen für sich einschätzen kann.
Auch hier geht es also darum, Standards für die Informationsdarstellung, aber auch - analog zur Entwicklung im Buchdruck - für deren Rezeption zu entwickeln, die weder die Freiheit noch die Polydirektionalität des Netzes einschränken noch jedoch der Willkür und Individualisierung von Wissen Tür und Tor öffnen.

Prinzipiell stehen wir also vor dem Problem, die Stärken und Schwächen des Netzes auszutarieren und Kommunikations- sowie Informationsformen zu entwickeln, die es uns möglich machen, die Stärken des Internets zu nutzen. Wenn wir dies tun, dann müssen sich vermutlich gleichzeitig unsere Wertvorstellungen verschieben - z.B. im Hinblick auf die Akzeptanz kollektiver, interaktionsintensiver Arbeitsformen einerseits und individualisierter, aber transparenter Informationsformen andererseits. Dabei stehen wir jedoch vor dem Dilemma, dass wir vorerst nach Kategorien vorgehen, die von anderen Medien geprägt sind. Damit sich die Stärken des Netzes durchsetzen können, sind einige grundlegende Verschiebungen kultureller Paradigmen notwendig. 

Was haben diese Bemerkungen nun mit der Netzkunst zu tun? Netzkunst ist - nach meiner Definition - Kunst, die sich der Computernetze bedient und sie zu ihrer Existenzbedingung macht. Das heißt, sie nutzt die Vernetzung für die künstlerische Produktion und/oder die künstlerische Darstellung. Die Funktionsteilung in Kommunikations- und Informationsmedium setzt sich hier fort: Die meisten künstlerischen (wobei ich unter "künstlerisch" zunächst auch literarische Projekte subsumiere) Projekte konzentrieren sich entweder auf die Kommunikationsmöglichkeiten oder auf die Möglichkeiten vernetzter Informationsdarstellung. In Anbetracht der oben ausgeführten These, dass wir erst am Anfang der Entwicklung stehen, wird deutlich, dass die Netzkunst eine wesentliche Rolle dabei spielen kann, die Grenzen, aber auch die Stärken des Netzes deutlich zu machen. Warum? Pragmatische Anwendungen des Netzes haben den Nachteil, dass sie häufig versuchen, an anderen Medien entwickelte Prinzipien auf das neue Medium zu übertragen. Dies kann in allen möglichen Bereichen beobachtet werden. Die Krise des e-commerce ist nur ein Beispiel dafür, dass Marktprinzipien der Industriegesellschaft offensichtlich nicht eins zu eins ins Netz übertragen werden können. Ähnliches gilt für die Versuche, vernetztes Arbeiten in Unternehmen zu etablieren. Im Bereich der Kunst sieht es nun etwas anders aus: Die Medienkunst - damit meine ich die Kunst, die mit elektronischen Medien arbeitet - hat eine lange Tradition. Insbesondere seit der Entwicklung von Fernsehen und Video liegt einer ihrer Schwerpunkte in der Reflexion der Möglichkeiten der Medien. Ähnliches ist bei der Netzkunst zu beobachten. Auch sie reflektiert ihr Medium und experimentiert mit dessen Möglichkeiten. Dabei lassen sich grob drei Schwerpunkte der Netzkunst unterscheiden:

  • Projekte, die mit kollektive/dialogischen Produktionsformen arbeiten (Produktionsästhetik)
  • Projekte, die nach medienspezifischen Darstellungsformen suchen (Darstellungsästhetik)
  • Projekte, die sich mit der Struktur des Mediums beschäftigen (Medienästhetik)

Auf jeden dieser Bereiche möchte ich im folgenden kurz eingehen.

3. Netzkunst I: Produktionsästhetik
Eine der Ursprungsideen, die hinter der Entwicklung des Internets (damals noch ARPANETs) standen, bestand darin, globale vernetzte Kommunikationsmöglichkeiten zu schaffen. Diese Idee inspirierte auch die Kunst, die sich im und mit dem Internet zusammen entwickelte. Schon vor der Entstehung des WWW wurden Telekommunikationsmedien, auch das Internet, für kollektive Projekte genutzt. Die Idee selber, das bürgerliche Paradigma des genialen Einzelkünstlers, das lange die Ästhetik beherrschte, zu durchbrechen, ist wiederum viel älter. Spätestens seit der Romantik wurde immer wieder versucht, interaktionsintensive Kunstformen zu entwickeln; als Beispiele seien hier nur die Idee des Gesamtkunstwerks von Wagner als einem intensiven Zusammenspiel zwischen Künstlern, aber auch zwischen Kunst und Publikum, genannt,[8]  aber auch z.B. Novalis' Begriff der "Coactivität" aller bei der Poetisierung der Welt.[9]  Zum Programm wurde die Idee einer kollektiven Kreativität jedoch erst in den Avantgarden des 20. Jahrhunderts - einerseits in den 10er und 20er Jahren, insbesondere im Bereich des Theaters (z.B. im Kontext des politischen Theaters Erwin Piscators), andererseits in den 60er Jahren, insbesondere in dern Happening- und Aktionskunst. Es ist jedoch interessant, dass sich derartige Konzepte in dieser Zeit nur unter den Bedingungen zeitlicher und räumlicher Präsenz tatsächlich auch umsetzen ließen. Insofern hatte es insbesondere die Literatur schwer, ihre Visionen tatsächlich umzusetzen - sie wurde letztlich immer wieder auf das interaktionsarme Medium Buch zurückgeworfen und scheiterte letztlich an dessen Materialität.

Dies ändert sich nun mit dem Internet, insbesondere mit dem WWW. Die ersten künstlerischen Projekte, die sich im WWW entwickelten, waren tatsächlich Projekte, die mit Formen kollektiver Produktion spielten. Inzwischen haben sich verschiedene Subformen kollektiver Kreativität herausgebildet, die sich in erster Linie in der Strukturierung ihres Entstehungsprozesses unterscheiden. Dabei unterscheide ich

  • kooperative Projekte
  • kollaborative Projekte
  • dialogische Projekte

Bisher oszillieren deren Strukturen noch zwischen der Übertragung von Prinzipien der Buchkultur ins Netz (Abhängigkeit) und der völligen Negierung jeglicher buchkultureller Standrds (Gegenabhängigkeit).[10]
So halten viele Projekte, die sich in Abhängigkeit von den Traditionen der Buchkultur bewegen, z.B. am Paradigma der Identifizierbarkeit von Einzelautoren fest, so dass jeder Beitrag mit Autorenname gekennzeichnet ist. Mitschreibeprojekte (wie z.B. "Beim Bäcker", eine der frühesten deutschen Mitschreibeinititiven), bei denen eine Geschichte gemeinsam weiterentwickelt wird, sind häufig so strukturiert. Derartige Projekte zähle ich zu den kooperativen. Sie unterscheiden sich in der Struktur ihres Entstehungsprozesses nicht wesentlich von der Buchkultur, da nach wie vor jeder alleine schreibt, auch wenn er Anregungen früherer Texte aufnimmt. Meist beschränken sie sich auch auf eine weitgehend lineare, klassische Textdarstellung.
Einige Projekte jedoch verzichten völlig auf jede Identifikation, so dass für den Rezipienten nicht mehr nachzuvollziehen ist, wer nun was wozu beigetragen hat. Derartige Projekte bezeichne ich als kollaborativ - "The Worlds First Collaborative Sentence" von Douglas Davis ist eines der frühesten Beispiele hierfür. Hier kann jeder spontan beitragen, ohne dass eine Kontrollinstanz eingreift. Dies führt jedoch dazu, dass das Projekt (und das gilt nicht nur für dieses) für reine Rezipienten kaum mehr nachvollziehbar ist, weil der Willkür der Teilnehmer völlig freien Raum gelassen wird und keinerlei Strukturierung in der Textdarstellung stattfindet.
Die dritte große Gruppe bezeichne ich als dialogische Projekte - es sind dies Initiativen, die auf der synchronen Gruppenkommunikation beruhen. Im Vergleich zu den vorangegangenen Projekten versuchen sie,  neue netzspezifische Arbeitsformen zu etablieren, die auf den polydirektionalen Kommuikationsmöglichkeiten des Netzes beruhen, allerdings - im Gegensatz zu Kooperation und Kollaboration - nur synchron, also unter der Bedingung der gleichzeitigen Anwesenheit aller Teilnehmer (wenn auch an verschiedenen Orten), funktionieren. Das Schreibnetz Hamburg hat einige solcher Experimente durchgeführt, aus denen durchaus lesbare Geschichten entstanden sind, die jedoch gleichzeitig die Mängel der Chatkommunikation deutlich zutage treten lassen. Der Chatkrimi "Tatort Eppendorf" mag hier als Beispiel dienen. Hier gibt es Passagen, bei denen deutlich wird, dass teilweise Überkreuzkommunikationen stattgefunden haben, wenn  ein Teilnehmer auf etwas eingeht, das jemand anderes schon kommentiert und in eine andere Richtung gelenkt hat. 
Dies scheint im übrigen das Hauptproblem kollektiver Projekte zu sein: Meistens steht die Produktionsdynamik zwischen den Teilnehmern im Vordergrund, nicht das Produkt. Daher laufen derartige Projekte Gefahr, zum kommunikativen Selbstzweck zu werden, der für Nicht-Beteiligte kaum von Interesse ist. Das zweite große Problem - insbesondere von Mitschreibeprojekten - ist das Engagement der Teilnehmer. Meistens erfreuen sich die Projekte anfangs großer Aktivitäten, die aber zunehmend abflauen. Der Grund dafür liegt m.E. nicht zuletzt darin, dass insbesondere kooperative Projekte noch auf Produktionsformen der Buchkultur basieren, der Einzelne also nach wie vor alleine schreibt, auch wenn er auf Ideen seiner "Vorschreiber" zurückgreift und sie einarbeitet.

Die kollektiven Projekte spiegeln damit die Probleme des vernetzten Arbeitens. Sie oszillieren zwischen der Übertragung von Prinzipien der Buchkultur, also der individuellen Produktion, und der völligen Negierung dieser Prinzipien, die meist im nicht mehr nachvollziehbaren Chaos endet. Es wäre daher notwendig, die Bedingungen vernetzten Arbeitens kritisch zu durchleuchten und ebenso die Möglichkeiten des Mediums zu hinterfragen. Das Internet eignet sich nicht für jede Form gemeinsamen Arbeitens. Die dialogischen Projekte scheinen bei der Suche nach produktiven vernetzten Arbeitsformen am weitesten fortgeschritten zu sein, stoßen aber noch auf mannigfaltige Probleme, die es in Zukunft zu lösen gilt, um - auch unabhängig vom künstlerischen Kontext - die vernetzte Gruppenkommunikation produktiv zu gestalten.
Darüber hinaus wird es in Zukunft darum gehen herauszufinden, wie das Netz für kollektive Produktion zu nutzen ist und wie die Prozesse und Resultate adäquat dargestellt werden können, so dass sie für Nicht-Beteiligte nachvollziehbar sind. Hier stehen wir erst am Anfang - und natürlich hängt die Entwicklung vernetzter Arbeitsformen eng mit der technologischen Entwicklung zusammen.

4. Netzkunst 2: Darstellungsästhetik
Ein ähnlicher Spannungsbogen zwischen Übertragung von Darstellungsprinzipien aus anderen Medien und experimenteller Radikalität in der Negierung alter Standards lässt sich in bezug auf die Suche nach medienspezifischen Darstellungsformen feststellen. Die bisher gezeigten Beispiele arbeiteten z.B. alle mit linearer Textdarstellung. Die Alternative dazu lag in der literarischen Produktion bisher meistens in der Nutzung des Hypertextes. Mittlerweile jedoch hat sich große Skepsis bezüglich der Konzeption von sogenannten "Hyperfictions" breitgemacht - "Hyperfictions" ist die Bezeichnung für Werke, die nach dem Vorbild des Romans funktionieren, jedoch mit einzelnen, durch Hyperlinks vielfach miteinander verbundenen Textsegmente arbeiten. Der Leser kann so mehrere Lesewege beschreiten, die möglicherweise jeweils andere Geschichten ergeben. Aufgrund der Intransparenz der Linksetzung, die auf dem Willen des Autors beruht, muss der Leser eigentlich das Denken des Autors nachvollziehen, ohne sein Wissen - sprich: seine Kenntnis der Geschichte(n) zu haben. Hyperfictions orientieren sich noch weitestgehend an den Prinzipien der Buchkultur - Einzelautorschaft, abgeschlossene Werke, etc. - und gehören daher in die Kategorie der abhängigen Projekte.
In der Netzkunst lassen sich jedoch mittlerweile zahlreiche Beispiele finden, die andere, sich vom Text entfernende Schwerpunkte setzen. Deutlich zu beobachten ist dabei eine Tendenz zur Visualisierung des Textes - eingedenk meiner obigen Bemerkung, dass der Bildschirm sich vermutlich nicht in dem Maße zum intensiven Lesen eignet wie das Buch. "The Great Wall of China" von Simon Biggs thematisiert diese Frage. Sein Projekt beruht auf einer unvollendeten Erzählung von Franz Kafka, "Beim Bau der Chinesischen Mauer". Der Text transformiert sich unter der Maus des Benutzers auf der Basis einer Datenbank, in der alle Wörter der Erzählung eingespeist sind. Nach festgelegten Syntaxregeln werden Sätze generiert, die allerdings nicht unbedingt sinnvoll zu nennen sind. Aufgrund der rasend schnellen Transformationsprozesse wird es für den Benutzer quasi unmöglich, den Text zu lesen - und selbst wenn er mit der Maus aus dem Text herausgeht, stellt sich die Frage, wie sinnvoll es ist, einen zufällig generierten Textabschnitt so zu lesen, als wäre es ein von einem Autor intendierter Text.
Diese Subversion des klassischen, aus dem Buch ins Netz übertragenen Leseverhaltens ist der eine Aspekt des Projekts. Der Verlust der Lesbarkeit geht einher mit einer Funktionsveränderung des Textes: Er erhält visuelle Qualitäten, zugleich findet sich der einstige Leser in der Rolle eines Spielers wieder, der die Interaktivitätsmöglichkeiten des Projektes nutzt. Darüber hinaus wird das Autorenindividuum aufgelöst: Man kann nicht mehr genau sagen, wer nun Urheber des Projektes ist: Der Programmierer? Der "Konzeptor"? Oder doch der Benutzer, der durch seine Aktivität den Text erzeugt? Es scheint nur eines sicher zu sein: Dass der Autor des gedruckten Textes, aus dem das Material stammt, nämlich Franz Kafka, seine Autorenfunktion hier verliert. Biggs subvertiert mit diesem Projekt eindeutig die Prinzipien der Buchkultur und deutet an, dass das Netz auf anderen Darstellungs- und Generierungsparadigmen beruht - die es jedoch erst noch zu entwickeln gilt.

Mit neuen Darstellungsformen von Text befasst sich auch Steve Cannons ambitioniertes Projekt "text.ure". Es koppelt die Visualisierung von Textstrukturen mit dem Text selber, wobei letzterer zwangsläufig in den Hintergrund gerät. "text.ure" experimentiert in erster Linie mit dem Verhältnis zwischen Software, Sprache und Design. Darüber hinaus koppelt es die kollaborative Textproduktion mit komplexer Programmierung. Als Rezipient muss man ein erhöhtes Maß an Experimentierbereitschaft und Geduld aufbringen, um das Projekt zu verstehen. Zunächst gilt es, die Navigationskriterien zu durchschauen, die einerseits an eine Topographie, andererseits an arbiträre Parameter gekoppelt sind: Die Textdatenbank wird als topographische Landkarte mit Erhebungen und Ebenen dargestellt, über die man mit dem Cursor fahren kann. Die "Berge" und "Täler" repräsentieren einen bestimmten Ort in der Datenbank und damit auch ein Textsegment. Neben der topographischen Karte nimmt der Leser seinen Weg durch die Segmente, die rechts als Text abgebildet sind, auch "linear" wahr. Von der in der Datenbank gespeicherten Geschichte gibt es mehrere Versionen - je nach Cursorbewegung wird eine in diesem "Terrain" befindliche Version angezeigt. Es existieren  verschiedene "Ebenen" mit Variationen der erzählten Geschichte. Der Rezipient kann über das Eingabetool Variationen hinzufügen und damit neue Ebenen kreieren, die wiederum die angezeigten Visualisierungen verändern.
Cannons Projekt ist ein Paradebeispiel für den Aspekt, den ich oben schon einmal kurz erwähnt habe: Es arbeitet mit einer eigenen Programmierung und damit mit Prinzipien, die für den Benutzer schwer durchschaubar ist. Diese Intransparenz führt dazu, dass das Projekt bis zu einem gewissen Grade unverständlich bleibt bzw. erst nach längerer Beschäftigung in seinen einzelnen Funktionen erschlossen werden kann. Die Kriterien, nach denen der Text visualisiert wird, sind willkürlich gesetzt. Als Experiment ist "text.ure" interessant, weil es deutlich macht, wie wenig derartige Projekte auf bestehende Standards zurückgreifen können. Das Lesen eines Buches kann zwar auch Arbeit sein, indem man sich die Struktur und den Inhalt erschließen muss; die Kriterien, nach denen es funktioniert, sind jedoch klar: Man beginnt am Anfang, die Seiten sind numeriert, es gibt Kapitel, der Leseweg ist vorgegeben, kurz: Das Programm, nach dem man sich dem Medium nähert, ist völlig standardisiert. Und wenn es durchbrochen wird, wie in einigen avantgardistischen Romanen, dann kann man als Leser damit umgehen, weil man die Grundsätze kennt, gegen die verstoßen wird. Anders sieht es hier aus: Cannon bricht mit jeglicher bekannten Art der Textdarstellung, indem er Visualisierung, Text und Benutzeraktivität miteinander koppelt - auf eine Art und Weise, die für den Benutzer - zumindest zunächst - intransparent ist. Biggs' Projekt dagegen ist - trotz der Intransparenz der Funktionsweise der Datenbank - leichter zu verstehen, weil er explizit auf die Standards der Buchkultur rekurriert und diese bricht.

Die beiden Beispiele sollen deutlich machen, dass wir - ähnlich wie bei der Kommunikation - erst am Beginn der Suche nach medienspezifischen Darstellungsformen stehen. Gerade in diesem Bereich wird auch deutlich, wie wichtig es ist, gewisse Medienkompetenzen zu erwerben, um adäquat mit dem Medium umgehen zu können. Vermutlich werden dazu auch gewisse Kenntnisse in den Prinzipien der Programmierung gehören, ebenso aber Funktionsveränderungen der klassischen Codes und damit einhergehend eine Umstellung des Wahrnehmungsverhaltens. Vermutlich wird sich die Textpräsentation grundlegend verändern - kürzere Textabschnitte, Dynamik, Visualisierung des Textes, auch automatische Generierung bestimmter Textsequenzen. Möglicherweise wird das Datenbankprinzip große Bedeutung erlangen, was bedeutet, dass die Kriterien, die es möglich machen, Datenbanken zu durchsuchen und sich Ergebnisse anzeigen zu lassen, die Generierung von Wissen grundlegend beeinflussen werden und daher zum momentanen Zeitpunkt transparent gemacht werden müssen, damit sich die Benutzer die notwendigen Kompetenzen aneignen können.
Computer und Internet bleiben dabei natürlich nach wie vor Medien unter vielen anderen. Das bedeutet wiederum, dass es nicht um eine Ablösung von z.B. buchkulturellen epistemologischen Kriterien durch netz- oder computerspezifische Informationsdarstellungs- und -verarbeitungsformen geht, sondern darum, dass zwischen den verschiedenen Programmen der Medien oszilliert werden muss. Damit dies möglich wird, müssen Computer und Internet allerdings bestimmte festgelegte kulturelle Standards entwickeln, die für die Benutzer zur Selbstverständlichkeit werden.

5. Netzkunst III: Medienästhetik
Zum Abschluss dieser kleinen Tour durch die Netzkunst möchte ich noch kurz auf den dritten Bereich der Netzkunst eingehen: die selbstreferentielle Medienkunst, die versucht, die Struktur des Mediums transparent zu machen und damit quasi eine "pädagogische" Aufgabe übernimmt: Nämlich den Blick für die Notwendigkeiten im Umgang mit dem Medium zu schärfen. Als Beispiel soll hier "%Location" von Jodi fungieren. Die Webseite zeigt ein Konglormerat an ASCII-Zeichen, die völlig willkürlich und unverständlich erscheinen. Wo ist hier die Kunst? werden Sie sich vermutlich fragen. Das Projekt erschließt sich erst, wenn man auf die Idee kommt, sich den Quellcode anzuschauen: Plötzlich ordnet sich das Chaos der Oberfläche zu klaren topographischen Zeichnungen. Fast alle Projekte von Jodi machen die verschiedenen symbolischen Schichten des Computers zum Thema und spielen mit der Intransparenz des Mediums für den Benutzer. Wer weiß schon, was wirklich passiert, wenn man auf einen Link clickt? Dass dann eine ganze Reihe an Prozessen in Gang gesetzt wird, bleibt unsichtbar. "%Location" verdeutlicht die Vielschichtigkeit und Komplexität des Mediums - ebenso wie die Fragilität der Browser-Darstellungen. Denn erst wenn man die Browser-Interpretation ausschaltet, indem man den Quelltext ansieht, offenbart das Projekt seine Bedeutung.

6. Oszillation als kultureller Prozess
Die Netzkunst diente hier nicht nur als Beispiel für die Probleme, die sich bei der kulturellen Etablierung eines neuen Mediums beobachten lassen. Sie ist zwar einerseits ein Spiegel der kulturellen Entwicklung, andererseits kann sie aber auch Impulse geben, indem sie die Reflexion über das Medium fördert und eventuell sogar mögliche Lösungen andeutet. Dies ist deshalb so wichtig, weil es nicht zuletzt in unserer Hand liegt, die Zukunft des Mediums mitzugestalten und unsere Bedürfnisse zu formulieren. Angesichts des harten Kampfes der Soft- und Hardware-Unternehmen um technische Monopole scheint dies zwar etwas idealistisch formuliert zu sein, dennoch bin ich davon überzeugt, dass Medien, die auf Dauer keinen sichtbaren Nutzen für die Gesellschaft haben, auch nicht überleben werden. Die Nutzungsmöglichkeiten des Internets liegen auf der Hand und ich hatte sie eingangs schon erwähnt:

  • zeit- und raumunabhängige polydirektionale (Gruppen-)Kommunikation
  • schneller Zugriff auf Informationen einerseits, aber auch neue Potentiale der Wissensgenierung durch veränderte Formen der Informationsgenerierung, -darstellung und -verarbeitung.

Ansätze, wie diese Potentiale genutzt werden können, sind schon vorhanden, jedoch befinden sie sich meist entweder in Abhängigkeit oder in Gegenabhängigkeit zu Programmen anderer, etablierter Medien. Der nächste Schritt wäre der zur Autonomie des Mediums - eben die Entwicklung von Nutzungsformen, die nur das Netz bieten kann, und der Ausbau der Potentiale zum produktiven und gleichzeitig auch selbstverständlichen Umgang mit dem Medium.

Konkret heißt das zum einen, Formen der (Gruppen-)Kommunikation auszubilden, die sicher anders funktionieren werden, als die bisher bekannten Kommunikationsformen, aber entsprechend effektiv für bestimmte Zwecke sein können - wie z.B. die Bearbeitung bestimmter Aufgaben mittels vernetzter Arbeitsplattformen. Zum anderen geht es darum, Computer und Internet - ähnlich wie es beim Buchdruck geschehen ist - für die Informationsgenerierung, -darstellung und -verarbeitung fruchtbar zu machen, und zwar unter Ausbildung neuer medienspezifischer Kriterien.
Dabei bleibt festzuhalten, dass das Internet sich immer im Verbund mit anderen Medien befinden wird und daher die Oszillation zwischen verschiedenen medialen Programmen zu einer grundlegenden kulturellen Kompetenz wird. "Oszillation" bedeutet ganz konkret einen kulturellen Prozess, der es ermöglicht, die Vielfalt von Phänomenen und Praktiken gleichermaßen zu nutzen, ohne eines oder eine zu prämieren und andere in den Hintergrund zu drängen.[11] Wie anfangs erwähnt, tendierte unsere Kultur in den letzten Jahrhunderten dazu, bestimmte Kommunikations- und Wahrnehmungsformen zuungunsten anderer zu bevorzugen und positiv zu bewerten. Dies betrifft die Prämierung der interaktionsarmen Kommunikation sowie die Standardisierung der Wahrnehmung z.B. durch zentralperspektivische Sichtweisen. Das Internet könnte und wird hoffentlich dazu führen, dass in Zukunft eine Vielfalt verschiedener Formen möglich wird, zwischen denen man oszillieren kann:

  • In bezug auf die Arbeitsformen wird demnach eine Oszillation zwischen selbstorganisierten und extern gesteuerten sowie zwischen kollektiven und hierarchisch organisierten Interaktionsformen notwendig;
  • Ebenso tritt man ein in die Oszillation zwischen Programmen der elektronischen Wissensgenerierung und -organisation und den klassischen Wissensstandards der anderen Medien.
  • Und schließlich wird man Oszillationen zwischen den verschiedenen Programmen technischer Vernetzungs-, Massen- und Individualmedien sowie leiblicher Medien herausbilden müssen.

Sobald das Netz derart autonom geworden ist, dass sich diese Oszillationen als selbstverständlich eingespielt haben, wird sicher auch deutlich werden, dass das Netz seine Paradigmen - z.B. die der kollektiven Arbeitsformen - als kulturell relevant durchgesetzt hat. Wenn dies der Fall ist und die wir unsere Gestaltungspotentiale gut genutzt haben, könnten interaktionsintensive Kommunikations- und Arbeitsformen sowie neue Wissensformen die Gesellschaft wesentlich - möglicherweise hin zu einer Netzwerkgesellschaft, die durch Oszillationsprozesse gekennzeichnet ist, verändert haben.


 
 

[1] Vgl. Castells, Manuel: Das Informationszeitalter Bd. 1: Die Netzwerkgesellschaft. Opladen 2001, S. 5. 

[2] Vgl. z.B. McLuhan, Marshall: Die magischen Kanäle - Understanding Media. Dresden 1994.  

[3] Vgl. insbesondere Giesecke, Michael: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationsmedien. Frankfurt am Main 1994. 

[4] Vgl. Giesecke, Buchdruck, S. 315 ff.

[5] Vgl. Giesecke, Buchdruck, S. 606 ff.

[6] Castells unterscheidet die Termini "Informationsgesellschaft" und "informationelle Gesellschaft". Erstere, so Castells, sei dadurch definiert, dass in ihr Informationen eine herausragende kulturelle Bedeutung spielen - dies sei aber nahezu bei jeder Gesellschaft der Fall( gewesen). Die informationelle Gesellschaft jedoch organisiert sich um "die Schaffung, die Verarbeitung und die Weitergabe von Informationen", indem sie sie "zu grundlegenden Quellen von Produktivität und Macht" werden lässt. Castells, Netzwerkgesellschaft, S. 22.

[7] M.E. ist es derzeit noch viel zu früh, um von einem Wechsel des Leitmediums Buch zum Leitmedium Internet zu sprechen, wie dies Roberto Simanowski tut (Vgl. Simanowski, Roberto: Interfictions. Vom Schreiben im Netz, Frankfurt am Main 2002, Einleitung). Zudem bedeutete die Etablierung eines Leitmediums wiederum die Prämierung bestimmter Paradigmen zuungunsten anderer - und genau dies sollte - wie später ausgeführt wird - vermieden werden.

[8] Vgl. Wagner Richard: Das Kunstwerk der Zukunft. In: Ders.: Die Hauptschriften, Zürich 1956, S. 116-127. 

[9] Novalis, Poësie. Vorarbeiten zu verschiedenen Fragmentsammlungen Nr. 31, in: Ders.: Schriften, Bd. 2, Darmstadt 1999, S. 321. 

[10]Das Phasenmodell von Abhängigkeit, Gegenabhängigkeit und Autonomie stammt ursprünglich aus der Sozialpsychologie und beschreibt die Etappen der Ablösung der Kinder von ihren Eltern. Die Abhängigkeitsphase ist durch die Übernahme der elterlichen Prinzipien geprägt, die Gegenabhängigkeit durch eine konsequente Protesthaltung, die deren Gegenteile kultiviert. Die Phase der Autonomie ist dann erreicht, wenn zwischen selbstgeschaffenen und überkommenen Prinzipien oszilliert werden kann. Dass sich dieses Modell auch auf historische Prozesse des Medienwandels anwenden lässt, zeigt Michael Giesecke. Vgl. Giesecke, Michael: Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft. Trendforschungen zur kulturellen Medienökologie. Frankfurt am Main 2002, S. 270 ff.

[11] Vgl. auch die Definition von Michael Giesecke, Mythen, CD-ROM: Modul 04, "Oszillation".