Vagabundierende Literatur
Literatur im Internet und Internetliteratur. Eine Einführung für Anfänger. Teil 1.


von Dirk Schröder

Sprache
abgehetzt
mit dem müden Mund
auf dem endlosen Weg
zum Hause des Nachbarn
Johannes Bobrowski: Sprache
 

Die die alten Zeiten zurückrufen: Ihnen wurde Gehör geschenkt. Ich spreche vom Internet, der Mutter aller Verwirrungen. Ich bin nicht verwirrt. Es gibt gar keinen Anlass zur Verwirrung. Ich werde gleich deutlicher.

Vorab aber dies: Das Internet ist kein neues Medium, es ist überhaupt kein Medium, so wenig wie beispielsweise die Post, diese Ansammlung von Verordnungen, Lkws, Briefträgern und Sortierkräften etc., ein Medium ist. Die Post ist eine Aktiengesellschaft; das Internet ein offenes und dezentrales Datennetz, das über einheitliche Protokollstandards die Verbindung beliebiger Computer erlaubt. Allenfalls eine Medienchimäre...

Das Internet (ursprünglich gedacht als militärisches Instrument) ist vor allem ein Werkzeug der Wissenschaften, auch der Literaturwissenschaften. Es bietet die verschiedensten Dienste an: Telnet, Gopher, WAIS, Usenet, Email, FTP und so weiter heißen die. Seit ein paar Jahren gibt es (dank CERN) einen weiteren Dienst: das WorldWide Web (WWW) - der machte das Internet auch für uns Deutsche sichtbar und populär. Das Homepagewesen begann.

Was hat das nun mit Literatur zu tun? Hören wir den Buchverlegern zu: Texte publizieren im WWW? Liest doch keiner. Es bleibt, das Buch. Oder den Dichtern: Surfen im Web? Nee, da geh ich doch lieber spazieren. Oder den Lesern? Die sagen nichts, sie lesen ja.

Es gibt literarische Texte im WWW, es gibt Literaturdiskurse und Werkaustausch in Newsgroups, es gibt ganze Literaturmagazine, aber - horchen wir noch einmal nach draußen, in die herkömmliche Welt, hören wir auf unseren Buchhändler: das Internet ist die Waffe des Versandbuchhandels. Igitt.

Ein ganz normaler Tag

Ich dusche mit echtem Wasser, kleide mich an und bereite das Frühstück. Dann wird das Baby gewindelt, ein wenig gesungen, ein wenig getanzt. Kinder ersetzen ja jeden Frühsport. Der Tee duftet, das Brot duftet und der Honig ist auch nicht schlecht. Ich höre Franziska zu, ich rede mit Franziska. Keine Zeitung wartet im Briefkasten.

Die Sonne ist aufgegangen, der Hund will raus und ich gehe an die Arbeit. Gemütlich; zuerst wird die Nachrichtenlektüre nachgeholt. Ich schalte den Computer ein und wähle über das Modem meinen Provider an. Schon "bin ich" im Internet. Der von mir abonnierte NewsService zeigt mir die aktuellen Meldungen einiger Nachrichtenagenturen zu den von mir ausgewählten Themen. Mobutu im Exil. Da will ich mehr wissen, z.B. aus der taz. Ich wähle die Website der taz an und lese, was die so meinen. Eine Meldung zur Asylrechtsdebatte wird bestimmt meinen Freund Georg interessieren; mit zwei Mausklicks ist sie kopiert und per Email an ihn unterwegs. Spätestens in fünf Minuten kommt sie bei ihm an. Bei dieser Gelegenheit schaue ich mal nach, wer mir geschrieben hat: drei neue Beiträge aus einer Mailingliste, an der ich teilnehme, eine Zahlungserinnerung meines Providers, die Umzugsmeldung meiner Freundin Hannah (wird gleich in der Adressdatenbank gespeichert), Werbung einer Versicherung (wird gelöscht), Werbung für eine neue Homepage mit Gedichten und ein unverlangtes Manuskript als Attachment, das muss jetzt erst mal warten. Nix besonderes. Ich schaue mir die beworbene Homepage an. Wenige Gedichte in dunkler Schrift auf dunklem Grund. Schräge Gedichte. Na ja.

Da wir gestern mal wieder über Ernst Jünger diskutiert haben, will ich mir später Bohrers "Die Ästhetik des Schreckens" aus der Bibliothek holen. Wenn es da ist. Via Telnet besuche ich den Computer der Bibliothek - auf meinem Monitor sieht das aus, als säße ich jetzt dort am Terminal - es ist noch für zwei Wochen verliehen. Ich werde Andrea anrufen, ob sie mir ihr Exemplar leiht, Andrea hat nämlich keinen Internet-Zugang, also muss ich zum guten alten Telefon greifen. Franziska hat gestern eine Frage an die Newsgroup "de.etc.sprache.deutsch" "gepostet", die sich dem Gespräch über Fragen der deutschen Sprache widmet. Schade, noch hat keiner geantwortet. Nun trenne ich die Online-Verbindung. Die Telefonleitung ist wieder frei.

Ich verfertige eine Antwort zu einem der Beiträge aus der Mailingliste, danke in einer Mail Hannah für ihre Nachricht, aktualisiere die Gedichtsuche-Seite meiner Homepage und wähle noch einmal meinen Provider an, um die Ergebnisse abzuschicken (die HTML-Seite übrigens per FTP, wieder einem anderen Internet-Dienst).

Nun wird richtig gearbeitet. Ein Artikel zur Rechtschreibreform muss fertig werden. Die nötigen Informationen habe ich schon gestern aus dem WWW (z.B. beim Institut für deutsche Sprache - http://www.ids-mannheim.de) besorgt. Nach ein paar Stunden ist der Text fertig und geht, wieder per Email, an Jürgen, der korrekturlesen wollte. Jetzt ist erst mal Mittagspause.

Danach ist der korrigierte Text schon da. Kompliment, das ging schnell. Die Korrekturen und einige Vorschläge sind in roter Schrift eingefügt. Ich nehme einige an, andere verwerfe ich. Dann geht das Ganze an den Verlag, der wenig später, nett, den Eingang bestätigt.

Eine kleine Besprechung, ein paar Telefonate, noch etwas Textarbeit und schon ist es Abend. Noch einmal sehe ich nach eingegangenen Mails. Eine ganze Menge. Unter anderem schickt Renate, die ich gar nicht kenne, ein gesuchtes Gedicht. Per Mail danke ich ihr und leite das Gedicht an den Suchenden weiter. Zuletzt: Die Postbank erlaubt mir den Blick auf mein eigenes Konto: Die Miete ist raus, ein fälliges Honorar aber noch immer nicht eingegangen. Trotzdem überweise ich mal meinem Provider DM 35,-. Der hat's verdient.

Ein ganz normaler Tag. Ohne Internet-Zugang wären ein paar Wege hinzugekommen, vieles hätte länger gedauert. Ja, es lohnt sich.

Nackte Nazis in der Flimmerkiste

Jeder kann mit jedem Informationen austauschen. Schnell, weltweit, ohne Beschränkungen. Jeder kann sein eigener Verleger sein. Seine eigene Werbeagentur. Über Standes- und Rassenschranken hinweg wie auch über Ländergrenzen. Über eine politisch motivierte Verhaftung in einer chinesischen Kleinstadt kann Minuten später die ganze Welt Bescheid wissen. In diesem Sinne ist das Internet ein Garant der Freiheit. Diese Freiheit wird, so meinen manche, missbraucht. Kinderpornos fänden sich hier ebenso wie Neonazi-Gruppen und deren Propaganda. Das stimmt und stimmt auch wieder nicht. Das Problem besteht in der Verfolgung von Straftaten über Ländergrenzen hinweg. Naziparolen, die in Amerika ins Netz gespeist werden, lassen sich von Deutschland aus nicht verhindern. Es gibt sie. Kinderpornografie ist hingegen überall auf der Welt strafbar und findet sich somit kaum im Internet. Der Mythos, der sie dorthinglaubt, erzählt von der Anonymität des Internet. Die gibt es nicht. Jederzeit kann man z.B. einen dieser klebrigen Kettenbriefe im Briefkasten vorfinden - ohne Absender. Per Email geht das kaum; immer gibt es einen feststellbaren Absender, von dem die Mail kommt. Das Netz ist öffentlich, d.h. nichts ist hier privat, nichts geheim und nur weniges anonym möglich. Im Gegenteil: noch Jahre später kann ich recherchieren, wer wann was zu welchem Thema in welcher Newsgroup gesagt hat. Und eine Homepage (ob mit oder ohne Pornos) sehe ich überhaupt nur, wenn ich ihre Adresse kenne. Das Netz schickt mir nichts ins Haus, ich muss alles selbst herbeiholen.

Internetliteratur

Was unseren Umgang mit Literatur so erschwert, ist ihre Kommerzialisierung. Der ganze Apparat von Literaturagenten, Verlegern, Grossisten, Buchläden und Rezensenten, das, was uns heute als die gute Literaturbranche gilt, ist Kommerz. Natürlich hatten Autoren schon immer wirtschaftliche Antriebe und Nöte, mussten ihr Werk verkaufen, aber im Angesicht des Verbrauchers, sozusagen. (Was machte Brecht so sicher, wenn nicht die Lehren seiner Wanderjahre?) Heute wird die angeblich schöngeistige Literatur von Literaturangestellten im Akkord nach feststehenden Schablonen fabriziert, und unsere hochentwickelte Literaturwissenschaft hilft diese ständig weiter zu verfeinern. Die Verbände der Autoren sind Gewerkschaften, die Wichtigkeiten des Feuilletons Entertainment. Kurz: Der ganze Literaturbetrieb ist eine Posse, die wir von Jahr zu Jahr gekonnter darbieten. Noch schärfer formuliert: mit zunehmender Etablierung der Branche sanken Bedeutung und Ansehen der Dichter. Einst waren sie wer, heute gehört alles, was mit Text zu tun hat, zu den schlechtbezahltesten Arbeiten überhaupt. Der Nimbus des Literaten ist nicht besser als der der Lungentuberkulose. So weit die volkstümliche Kritik des Literaturbetriebs.

Das Internet schafft neue Verbindungen, beliebige Verbindungen, von (potenziell) jedem zu jedem. Für die Literatur bedeutet das die Chance einer geradezu normfreien Kommunikation über und mittels unfertiger Texte. Und genau das wirkt wie ein Bewässerungsprojekt in der Wüste. Die Literatur ist wieder unterwegs. Allen voran die Lyrik, da sie so klein ist, sich durchschlängelt und auch lesefreundlich ist, an den Bildschirmen. Die Literatur ist aufgebrochen nach Jahrhunderten des Häuslebauens. Die Tradition wird hier nicht verworfen oder vergewaltigt, sie wird wieder aufgenommen, blüht wieder auf, nachdem sie sich so lange in kleinen Debattierzirkeln und Literaturmagazinen mühsam am Leben halten konnte.

Bei aller Betonung des Unterhaltungscharakters der Literatur - sie ist dennoch bedeutsam, zu bedeutend, um sie wie einen empfindlichen Papyrus vor allem Neuen zu bewahren.

Wohin geht es? Das weiß noch keiner. Neue Medien entstehen, neue Künste, neue Begegnungs- und Gesprächsformen; alles ist im Fluss. Das literarische Treiben im Internet, wie es sich heute zeigt, ist nur eine Fassette eines allgemeinen Aufbruchs.

Internetliteratur?

Kaum etwas wird unter "Internetliteraten" so heftig diskutiert wie die Frage, ob sie überhaupt existiert, die Internetliteratur. Beinahe jeder heutige Schriftsteller benutzt einen PC - kein Grund, von Computerliteratur zu sprechen; wie ja auch kein spürbarer Übergang von der Handschrift- zur Schreibmaschinenliteratur stattgefunden hat. Worum geht es?

Wir finden im Internet ganz normale (herkömmliche) Literatur und zwar nicht wenig. Da wäre etwa das 'Projekt Gutenberg' mit der Absicht, alle(!) Hauptwerke der deutschen Literatur in Online-Ausgaben ins Netz zu stellen. Unbezahlte freiwillige Helfer tippen in ihrer Freizeit hunderte von Seiten ab, scannen Texte ein, lesen Korrektur, bereiten die Texte zu HTML-Seiten auf. Sie glauben an diese Idee. Jeder kann dann auf die Online-Ausgaben zugreifen, nach Stichworten per Volltextsuche fahnden, Teile ausdrucken...

Andere, vor allem Autoren, die keinen Verleger fanden, publizieren ihre Manuskripte im WWW, wieder andere (oder dieselben) schicken Geschichten und Gedichte an Newsgroups, wo sie kommentiert, gelobt oder bekrittelt werden. Schreibende diskutieren in Mailinglisten, Verlage werben online, und natürlich ist auch der gesamte Buchbestand von KNO abrufbar. Ist das das Ende der Buchkultur? Wer schon einmal versucht hat, einen ausgewachsenen Roman am Bildschirm zu lesen, weiß, dass NEIN. Eher finden gute Autoren durch diese Präsenz doch noch einen willigen Verleger.

Heißt das, dass man sich durch Berge literarischen Mülls wühlen muss, um Brauchbares zu finden? Ja, leider. Eine gute Hilfestellung geben hier Linklisten von fleißigen Websurfern, die ihre Funde kommentiert in einer Art Adressbuch veröffentlichen. So etwa Oliver Gassner unter http://www.swbv.uni-konstanz.de/olli/. Ansonsten helfen Suchmaschinen weiter.

Neben der bloßen Publikation literarischer Texte im Netz entstehen dort neue Produktionen, die speziell für das Netz gemacht sind oder ohne Vernetzung so nicht hätten entstehen können. Sie sind einfach daran zu erkennen, dass im Falle eines Abdrucks auf Papier wenig von ihnen übrig bleibt. Dies meint zum Beispiel Linktexte (womöglich jedes Wort verweist, anklickbar, auf etwas anderes) oder Linkgeschichten (es gibt mehrere Möglichkeiten - 'soll es so oder so weitergehen?'); Verknüpfungen von Texten mit Grafiken, Fotos, kleinen Filmen oder Musik, Geräuschen, Sprache, die dann aus dem PC-Lautsprecher scheppert; Mitschreibprojekte, an denen jeder, der zufällig "vorbeisurft" sich beteiligen kann. Manches davon erinnert ans Barock: opulente Materialschlachten mit Farben und Formen oder feinsinnige Setzkastenspiele. Raymond Queneaus "Hunderttausend Milliarden Gedichte" ließen sich wunderbar in HTML umsetzen. Die Schwierigkeit besteht in der Abgrenzung der Kunstgattungen. Was ist Literatur, was ist bildende Kunst. Sehe ich ein Gedicht oder eine Multimedia-Show...? Was ist ein Hörspiel mit Bildern und verzweigten Texten? Daneben ergeben sich handwerkliche Probleme, leicht wird aus der Unzahl technischer Möglichkeiten eine Technikfalle, in die sich leicht verstrickt, wer sich unbemerkt vom Schreibenden zum Programmierenden wandelt.

Ich glaube, dass es Netzliteratur als solche wirklich gibt. Wo so viele Schreibende die Begegnung im Netz suchen, sich über ihre Erfahrungen, ihre Projekte austauschen, versuchen, das Bewusst-Andere zu schaffen, mit den neuen Verfahren experimentieren - geschieht nicht Nichts. In jedem Fall verändert es die Literatur - weil es die Literaten verändert. Weil es das Schaffen im stillen Kämmerlein aufhebt, weil es direkte Reaktion des Publikums ermöglicht, geradezu heraufordert, weil hier Literatur an einem Ort entsteht, an dem sich auch eine neue Sprache ausbildet, ein Sprache[28], die uns wohl schon morgen eine weltweite Verständigung ermöglicht, weil, wer mit Internetliteratur zu tun hat, nicht nur mit Literatur zu tun hat. Jenseits aller Technotricks!

Kein Konsens...

Vor einem Jahr veranstaltet die ZEIT, zusammen mit IBM, ihren ersten Internetliteratur-Wettbewerb. Jetzt ist der zweite Durchgang ausgeschrieben.  Die organisatorisch bedingten Vorgaben der Jury (eng begrenzter Dateiumfang, keine Vernetzung nach außen, keine Multimedia-Elemente) erzwangen eine starke Textlastigkeit der Wettbewerbsbeiträge und provozierten eine bis heute anhaltende Debatte über das Wesen von Netzliteratur. Und über das Wesen von Literatur überhaupt. Was kann, was muss, was kann nicht durch Text ausgedrückt werden. Welche Unterschiede bestehen zwischen gelesenem und gehörtem Text, was zeigt und was verbirgt ein Link, ist ein Text notwendig statisch feststehend, etwas dem Leser Vorgesetztes? Braucht Internetliteratur das Internet selbst zum Gegenstand? Die schon erkennbaren Hauptströmungen dieses Diskurses (Ja/Nein, Dieses/Jenes) werden im nächsten Teil dieser Einführung vorgestellt.

Unbestritten ist nur eines: Es hat schon eine Veränderung eingesetzt, die das klassische Literaturverständnis angreift; etwa ein nicht abgeschlossener Text ist keineswegs notwendig ein Fragment, einen literarischen Text lesen wir nicht mehr unbedingt in immer gleicher Reihenfolge. Zudem beginnt die klare Scheidung von Autor und Leser ins Wanken zu geraten. Das ist noch keine Revolution, aber es geht ja weiter...

Wer bezahlt?

Schreiben gilt schon länger als Beschäftigung liebenswerter Spinner. Geld ist damit kaum zu verdienen (s.o.) und speziell Lyriker nagen ohnehin stets am Hungertuch...

Das alles wird im Internet nicht anders. Es wird schlimmer. Es entstehen Kosten. Die trägt der Autor. Und: es kommt nichts herein. Der Leser liest kostenlos. Gegenwärtig gibt es nichts besseres als das Internet, um die Früchte geistiger Arbeit zu verschenken. Kein Zufall, dass Rechtskundigen die Köpfe rauchen angesichts der drängenden Fragen zum Online-Urheberrecht. Immerhin eines scheint inzwischen festzustehen: Ein Link zu einer anderen Seite, also eine Adresse und die technische Hilfe, dort unverzüglich hinzugelangen, kann noch nicht als Kopie eines urheberrechtlich geschützen Werkes gedeutet werden. Aber: alles, was mir mein Monitor zeigt, befindet sich bereits auf meinem Computer, egal, woher es kam. Eine Raubkopie ist entstanden. So weit ich diese nur für private Zwecke nutze, dürfte das nach § 53 UrhG in Ordnung sein - sei's drum. Nur: der Autor bekommt nichts!

Das Internet ist bislang kein Ort für Berufsschriftsteller. Vom Publizieren im WWW etwa kann keiner leben. Es herrschen Enthusiasmus, Hobbyschreiberei und der engagierte Diskurs von Literaturstudenten. Literatur von unten? Oder unprofessioneller Müll? Die Aktiven sind überwiegend jung - die Literatur von morgen wird somit in jedem Fall hier mitentworfen.

Dauert's?

Dauer und Bewegung scheinen unvereinbar. Unterwegs sein und Ankommen. Das Internet hat sich, wie vieles in unserer Zeit, rasant entwickelt. Vom militärischen Forschungsprojekt zum interaktiven Gegenfernsehn. Nichts dauert. Das Netz hat Zukunft, ohne Zweifel. Aber es wird seine Gestalt verändern - und alles, was sich darin befindet, mit ihm. Netzliteratur ist heute noch kurzlebig, so weit sie kommunikative Literatur ist, sogar notwendig flüchtige. Experiment folgt auf Experiment und weiter geht's. Wir können nicht einmal wissen, ob die Computer von morgen die Netzkunstwerke von heute noch so anzeigen werden, wie sie heute gedacht sind, ob überhaupt. Von 'Eintagsfliegen' ist die Rede - und das führt in die Irre. Nichts wird hinterher wieder wie es vorher war. Wir verändern uns. Und mit uns unsere Literatur.

Das Buch, so heißt es, dauert. Ich will hier nicht spekulieren - es spricht jedoch wenig dafür. Eine Verbreitung jeglicher möglicher Inhalte von Büchern über Datennetze ist zumindest technisch möglich. Die gegenwärtigen Probleme betreffen den allgemeinen Zugang zum Netz, Geschwindigkeit und Kosten von Ausdrucken sowie das Autorenhonorar. Daran wird gearbeitet. Der Zugriff auf einen elektronischen Text erweist sich als umständlich, verglichen mit dem Griff ins Buchregal. Umgekehrt ist aber die Erstellung und Verbreitung einer Datei deutlich billiger und einfacher als die Produktion und der Vertrieb eines Buches.

Bleibt die Frage nach der Qualität. Sie sind überall, die Herren Beckmesser, die sich ihren Maßstab mal irgendwoher gegriffen haben und nun an alles anlegen, das ihnen unter die Augen kommt. Aber die nehmen Netzliteratur kaum zur Kenntnis. Dort müssen werkimmanente Maßstäbe her. Jedes bessere Stück Onlineliteratur liefert seine eigene Poetik gleich mit. Daran kann es sich messen lassen. Der sehr verbreitete Pauschalvorwurf "100% Schrott" erweist sich rasch als Vorurteil, wenn man nur selbst nachsieht. Dazu möchte ich einladen.

Teil 2

© dirk schröder, konstanz 1997
Original für IMPRESSUM, Essen.