Forum Ästhetik Digitaler Literatur, 20./21. Oktober 2000, Kassel

Ein neues Literaturmilieu

[zwischen Transfugalität und "Event-ualität"]

von Beat Suter


Dass ein Medium ein neues Genre erzeugt, ist nichts ungewöhliches, eher schon eine Begleiterscheinung der medialen Auseinandersetzung. Dies lässt sich in der Mediengeschichte des 20. Jahrhunderts immer wieder beobachten: Das Radio erzeugte das Hörspiel, das Kino den Spielfilm, den Experimentalfilm, den Dokumentarfilm und das Fernsehen beispielsweise die Serien, die Krimis und den Fernsehfilm. Wenige dieser Genre haben auf Anhieb eingeschlagen und sofort ihr Publikum gefunden. Der Spielfilm brauchte dazu Jahrzehnte, das Hörspiel hat auch heute nur eine kleine Fangemeinde und selbst diverse Fernsehgenres haben sich erst nach Jahren wirklich durchsetzen können.

Neue Formen haben es grundsätzlich nicht leicht in einer gewohnheitsorientierten Kultur- und Medienwelt. Meist ist nur ein kleiner Teil des potentiellen Publikums bereit, sich dem Neuen wirklich vorurteilslos zu öffnen. Wer sich noch nicht an ein neues Medium gewöhnt hat, der reagiert zumeist — selbst wenn er keine grosse Skepsis hegt — dem Neuen gegenüber zuerst einmal mit viel Ratlosigkeit und einem unsicheren Gespür der Einschätzung. Die Geschichte einiger Genres wie dem Film und dem Hörspiel zeigen dies sehr deutlich:

So die öffentliche Vorführung eines der ersten Filme durch die Gebrüder Lumière 1895 in Lyon. Der Film hiess "Vue No. 653: Arrivée d’un train à la Ciotat." und brachte einige Zuschauer dazu, in Panik vor dem auf sie zufahrenden Zug aus dem Kinosaal zu flüchten. Realität und ihre Abbidlung in einem neuen Medium konnten im ersten Augenblick nicht auseinander gehalten werden. 


[Bild1: Der Zug, der 1895 in den Kinosaal einfuhr]

Noch deutlicher wird die Unsicherheit des unerfahrenen Publikums beim berühmten Hörspiel von Orson Wells, das 1938 uraufgeführt wurde. Die Adaption von H. G. Wells Roman "War of the Worlds" von 1898 an "Halloween" 1938 hatte die im Roman geschilderten Angriffe der Marsmenschen mit riesigen Robotermaschinen ("The Coming of the Martians") zu einem Hörspiel verarbeitet, das Nachrichten-Beiträge und Live-Berichte von Angriffen in New Jersey simulierte. Vor dem Hintergund einer weltpolitisch sehr unsicheren Situation und dem ungewohnten Einbezug von Versatzstücken kontemporärer Alltags- und Medienrealität liessen sich zahlreiche Menschen in New York übers Radio in Panik versetzen und flüchteten familienweise auf den Ausfallstrassen aus der Stadt. 


[Bild 2: "The Coming of the Martians" ]


Avantgarde und Entvertikalisierung

Eine Frage, die sich viele Literaturwissenschafter sehr bald stellen, wenn sie auf ein neues Phänomen wie Hyperfiction stossen — und da bekenne ich mich selbst auch schuldig —, ist jene nach Qualität und Originalität im Vergleich mit bereits kanonisierten Texten und Genres. Doch ob nun die Verfasser von Hyperfiktionen die Avantgarde der Literatur von morgen sind, die nach Erweiterungsmöglichkeiten literarischer Gestaltungs- und Ausdrucksformen mit neuen Mitteln sucht ,oder ob sie die Arrièregarde der Literatur von gestern [1]sind, die bekannte und bewährte Sprach- und Textspiele epigonal im neuen Medium reproduziert, erscheint vorerst nicht wichtig zur Einschätzung des Phänomens. Oder wie Johannes Auer bzw. sein Künstler-Alter-Ego Frieder Rusmann es mit einer limierten Ausgabe seiner art wear in Form eines T-Shirts ausdrückt, das die Käufer zu Kunstprodukten macht: "Avantgarde is wurscht!"[2



[Bild 3: Avantgarde is ... schön wurscht!]

Ja, es ist sogar sehr problematisch, denn kultursoziologisch betrachtet zerfällt die Gegenwartskultur in viele unterschiedliche Kulturmilieus, die sich nicht mehr hierarchisch aufeinander beziehen, sondern sich nebeneinander entwickeln. Der Soziologe Gerhard Schulze beschreibt dies mit dem Begriff der "Entvertikalisierung der Alltagsästhetik"[3]. Anschaulich ist das besonders im Bereiche der Musik, wo sich in den letzten 20 Jahren Dutzende von sehr soliden Szenen in verschiedensten Musikrichtungen herausgebildet haben, die nebeneinander weiter existieren. Aber mittlerweile hat diese "kulturelle Segmentierung" auch andere Kunstbereiche erfasst. So können denn heute Kunstprodukte nicht mehr unbedingt im Verhältnis zu anderen Kunstprodukten — beispielsweise nach dem Kriterium neu/ alt — beurteilt werden, sondern nach der ihnen eigenen Ästhetik.

Dies, so stellte Michael Böhler, Mitherausgeber des Buches "Hyperfiction"aus diesem Umstand folgernd fest, hiesse denn aber auch, "dass eine neue avantgardistische Kunstpraxis nicht mehr notwendigerweise in ein bestehendes Kulturmilieu integriert wird als deren "Neues", sondern dass sie ein neues Kulturmileu bildet." Treffe dies tatsächlich zu, so Böhler weiter, "wäre Internetliteratur als Literaturpraxis und Kulturmilieu sui generis zu betrachten und nicht als Fortschreibung eines Alten mit neuen Mitteln."[4]



Die Eigenschaften der neuen Literatur

Internetliteratur als neues Kulturmileu? Kann man das so formulieren? Trotz der Unsicherheit bei der Einschätzung des Phänomens lässt sich feststellen, dass in den letzten Jahren ein neues Milieu für Literatur entstanden ist, das sich (nicht ganz freiwillig) ausserhalb der etablierten literarischen Welt angesiedelt hat und seine eigenen Entwicklungswege geht. Autoren und Künstler haben sich im Netz einen neuen sozialen Raum geschaffen. Ihre Produkte, die man je nach dem als Hyperfictions, Cyberfictions, Webfictions, Netzliteratur oder Welttexte bezeichnet, zeichnen sich aus durch ein hohes Mass an Experimentalität, durch künstlerischen Gestaltungswillen, der mehr als nur tradierte Formen transportieren will, durch Hybridität, die neue Formen entstehen lässt, durch narrative Eigenräumlichkeit, durch Nichtendgültigkeit, durch Streben nach Interaktivität und durch "Event-ualität". Der Begriff der "Event-ualität" ist vielleicht etwas irritierend, doch er versucht einen Aspekt zu fassen, der beinahe alle Sparten und Segmente der Kultur sowie sämtliche Szenen durchdringt. "Event-ualität" heisst Kunst mit Ereignischarakter, Geschwindigkeit, Rastlosigkeit, Punktualität, dauerndes Weitergehen, Aufmerksamkeit, Bühne, Performanz, Spiel.

Obwohl die meisten Hyperfictions über mehrere dieser Aspekte verfügen, lassen dich die einzelnen Aspekte doch besonders gut anhand bestimmter Hyperfictions zeigen, die sich einem Aspekt ganz besonders angenommen haben. So zeichnen sich die Texte "tango rgb" und "noise 99" von Oliver Gassner sowie die "Poem Art"-Projekte von Johannes Auer in "kill the poem" durch ein besonders hohes Mass an Experimentalität aus. Den künstlerischen Gestaltungswillen, der mehr als nur tradierte Formen transportieren will, findet man beispielsweise in den Projekten von Olia Lialina wie "My Boyfriend Came Back From the War" und "Heaven from Hell". Ein gutes Beispiel für Hybridität, die neue Formen entstehen lässt, liefert die "Aaleskorte der Ölig" von Frank Klötgen und Dirk Günther, die den Leser zum Regisseur eines Films macht, der sich bei der Präsentation wandelt. Durch die Erschliessung eigener narrativer Räume mittels Umsetzung neuer, einfacher Formen beeindruckt vor allem die Hyperfiction "Hilfe!" von Susanne Berkenheger. 


[Bild 4: Hilfe! Die Fensterchen reden ...] 

Dem Aspekt der Nichtendgültigkeit nehmen sich beispielsweise die lyrischen Projekte von Robert Kendall an, in einem weniger grossen Masse aber auch die bekannten Storyspace-Hyperfictions "Afternoon, a story" von Michael Joyce und "Victory Garden" von Stuart Moulthrop. Das Streben nach Interaktivität lässt sich in vielen Projekten sehr deutlich wahrnehmen, unter anderm in "23.40 — das kollektive Gedächtnis" von Guido Grigat, an der Rapmaschine "Looppool" von Bastian Böttcher, im kollaborativen Projekt "gvoon" von Heiko Idensen sowie in diversen Mitschreibeprojekten. Den beschriebenen Aspekt der "Event-ualität" schliesslich findet man in Projekten wie der "Aaleskorte der Ölig", im populären "Assoziationsblaster" von Alvar Freude und Dragan Espenschied, der eine neuartige Kombination von Zufall, Wahrscheinlichkeit und Ereignis mit Partizipation darstellt.


Das Transversale

Die hervorstechenden Merkmale dieses neuen Kultur- und Literaturmilieus können aber wohl am einprägsamsten mit den beiden Begriffen des "Transversalen" und des "Transfugalen" umschrieben werden.[5]

Als "transversal" hat Wolfgang Welsch in seiner Philosophie der zeitgenössischen Vernunftkritik allgemeine Denk- und Gestaltungsformen der Gegenwartsgesellschaft bezeichnet. Schreiben und Denken im Netz, bzw. im World Wide Web sind als solche praktische Vollzüge transversaler Vernunft, die im Kontext von Internetliteratur strukturbildenden Charakter haben. Immer aber steht dabei das Streben nach neuen adäquaten Formen im Vordergrund.

Schreiben und Denken im Netz sind, das stellt beispielsweise auch Mike Sandbothe fest, nicht zu trennen von der kreativen und ästhetischen Gestaltung der einzelnen Projekte. Schreiben und Denken im Netz heisst kreatives Installieren von Hyperlinks, ästhetisches Gestalten des Designs von Webseiten, geschickter und einfallsreicher Umgang mit Bildbearbeitungsprogrammen wie Photoshop und multifunktionalen Editoren wie Go Live oder Dreamweaver beziehungsweise geschicktes Programmieren mit HTML, DHTML, XML, JavaScript, Applets, Flash, ASP, SQL etc. Der Künstler muss sein Spektrum erweitern und sich gewisse Progammierer- und Gestalterqualitäten erarbeiten. "Das alles sind praktische, d.h. künstlerisch-handwerkliche Vollzüge, durch die der Schreibende aus der Position eines reinen Beobachters herausgerissen und in konkrete Handlungszusammenhänge eingebunden wird[6

Die auffallende Bereitschaft, die neuen Denkformen der Verflechtung, Verkreuzung unterschiedlicher Codes und Vernetzung zu erproben, die Welsch in der Sphäre der Kunst in sogenannten Hybridformen entdeckt, lässt sich in der praktischen Arbeit an Hypertexten und Multimedia beobachten und ohne Einschränkung auch auf das neue literarische Genre der Hyperfictions übertragen.

"Manche künstlerischen Gestaltungen lassen sich als Darstellungsexperimente von Pluralität und Transversalität auffassen. Dies gilt insbesondere für Hybridformen, wie sie in der gegenwärtigen Kunst und Architektur in den Vordergrund treten."[7]
"Doppelcodierung", Komplexität (und Widerspruch) sowie Hybridbildung, wie sie sich vor allem die postmoderne Architektur zu erschliessen mühte (Robert Venturi: Complexity and contradiction in architecture, 1966. Und: Learning from Las Vegas 1978), war den Hyperfiktionen dank des integralen Nutzens der Computer- und Netzwerktechnik von Beginn an inhärent. Grenzüberschreitungen und fliessende Übergänge sind dabei automatisch Bestandteil der kreativen Prozesse geworden.

In Venturis Buch zu Komplexität und Widerspruch liesse sich bsp. in einer längeren Passage des Manifestes auf Seite 23 das Wort Architektur ohne weiteres durch das Wort Hyperfiction ersetzen, die Bedeutungen von Komplexität und Widerspruch also auf das neue Phänomen übertragen. Doppelcodierungen konkretisierten sich in der Architektur bsp. in manchen Gebäudeabschlüssen, die sowohl als Mauer und Bank fungieren. Mehrdeutigkeit und Spannung lassen sich bsp. in den von Venturi als "dekorierte Schuppen" und "Behälter mit Symbolen drauf" bezeichneten amerikanischen Imbissbuden und Las-Vegas-Motels erkennen. Bekannter vielleicht bei uns Bauten von Jean Nouvel, der in der "Le Monde d’Arabe" (arabische Bibliothek) in Paris mit verschiedenen dieser Merkmale arbeitet, wenn er moderne Glasbau-Architektur und traditionelle islamische Ornamentik zusammenbringt.

Welsch stellt fest: Mit den "Denkformen des Gewebes" wird statt der "alten Denkweisen sauberer Trennung und unilinearer Analyse" die sogenannte "Übergängigkeit zwischen den Codes zur Elementarverfassung der Gestaltung und zur Bedingung ihrer Rezeption".[8]


Das Transfugale

Der Begriff des "Transfugalen"[9] dagegen umschreibt den Tatbestand der transitorischen Flüchtigkeit, der die neue Literaturform gleich in mehrfacher Hinsicht bestimmt. Diese transitorische Flüchtigkeit lässt sich grob in drei Aspekte einteilen:

1) Jeder Autor ist sein eigener Herausgeber.

2) Die relative Flüchtigkeit des materialen Datenträgers, bzw. der binären Datenspeicherung auf unterschiedlichsten, schnell veraltenden Datenträgern.

3) Unbegrenzte Eingriffsmöglichkeit über die Funktionen "Speichern" und "Löschen" sowie anderer Manipulationen.

Im Grunde genommen brauchen diese drei Aspekte keine weiteren Erläuterungen. Im Umgang mit Computer und Netzwerken sind sie uns selbstverständlich geworden; doch gerade deswegen vergessen wir meist auch, wie grundlegend sie für die neuen Phänomene wirklich sind.

Aspekt 1) weist darauf hin, dass Hyperfiktionen Texte sind, welche die traditionellen Produktionsschritte für Literatur zu überspringen vermögen. Alle vermittelnden Instanzen von Lektorat, Produktion, Marketing, Handel und Verkauf, die für "Papierliteratur" unerlässlich sind, können ausgeschaltet werden. Der Autor wird damit zum Herausgeber, der alle vermittelnden Instanzen selbst übernehmen muss oder sich dafür entscheiden kann, zu Gunsten einer schnellen Veröffentlichung im Netz verschiedene der Produktionsschritte zu überspringen.

Aspekt 2) weist darauf hin, dass auf der Ebene des materialen Datenträgers die elektronische Basis der Texte in Form binärer Datenspeicherung und die generell kontrollierte Unkontrollierbarkeit des Mediums Internet sowie die rasante Geschwindigkeit der Datenübermittlung zur Folge haben, dass die einzelnen elektronischen Texte und Werke ebenfalls einen sehr flüchtigen Charakter annehmen. Diese transitorische Flüchtigkeit übt einen nachhaltigen Einfluss auf die neue Literaturform aus. Beweise dafür, dass einzelne ältere Datenträger zerfallen, häufen sich mittlerweile — und dies nicht nur bei audiovisuellen Dokumenten auf Film und Tonband. Chemische Prozesse lassen Filme schrumpfen und ausbleichen, Schallplatten werden spröde und splittern, Magnetbänder entmagnetisieren sich trotz sorgfältigster Lagerung, Disketten ebenfalls und bei CDs ist man sich nicht sicher, wieviele Jahre sie wirklich hinhalten. Hinzu kommt selbstverständlich, dass Spulen, Kassetten, Disketten und Festplatten ihren Inhalt nur dann preisgeben, solange noch Lesegeräte und Leseprogramme dafür vorhanden sind. Ein Beispiel: Die Nasa stellte fest, dass über 20 Prozent der Informationen, welche die Marssonde Viking auf ihrer Reise durchs Sonnensystem 1976 gesammelt hatte, nicht mehr gelesen werden können. Darunter sind zahlreiche Satellitenaufnahmen von Brasiliens Amazonasbecken aus den 70er Jahren, die man heute für verschiedene Forschungsgebiete äusserst gerne auswerten würde. Jene Aufnahmen sind aber auf Bändern gefangen, die der Markt längst vergessen hat. 25 Jahre später gibt es keine Lesegeräte mehr für die Bänder. Die Nasa hat bis anhin keine Mittel gefunden, die Daten wieder zugänglich zu machen. Doch selbst beim rechtzeitigen Umkopieren von Daten auf neuere Datenträger gehen meist Bruchteile von Daten verloren; so beklagt das grosse Bildarchiv Corbis beispielsweise bereits den Verlust von insgesamt 50 Bildern bei den Konvertierungsprozessen, die beinahe jedes zweite Jahr durchgeführt werden.

Aspekt 3) beschreibt die veränderten Manipulationsmöglichkeiten der einem Projekt (Text) zugrunde liegenden Daten: "Speichern" und "Löschen" bestimmen über Verfügbarkeit oder Verlust, über Präsenz oder Absenz der elektronisch gesicherten Daten, die den Text der elektronischen Werke konstituieren. So sind viele der Texte, welche die ersten Gehversuche der Hyperfiktionen repräsentierten, schon jetzt wieder von den Server-Computern gelöscht, mithin aus dem Raum der Internetliteratur verschwunden und einer weitern Rezeption unwiderruflich entzogen. Bestes Beispiel dafür sind die Wettbewerbsbeiträge der Zeit- und Pegasus-Wettbewerbe von 1996 bis 1998, die Anfang des Jahres 2000 vom Server gelöscht wurden, ein törichter Akt, der die ganze Netzliteraturgemeinde verärgerte. Die bereits getilgten Texte hinterlassen zwar im Netz meist Spuren, doch eine komplette Regenerierung erweist sich — wenn die Texte nicht auf einem separaten Datenträger gespeichert wurden — oft als nicht mehr möglich.[10] So ist der Internetliteratur der prekäre Status des Flüchtigen, einer steten Fluchtbewegung durch das Medium Internet hindurch eingeschrieben, das sie gleichsam nur temporär passieren; im Sinne Deleuze’ liesse sich auch von einem steten Prozess der "Deterritorialisierung", der temporären "Reterritorialisierung" und erneuten "Deterritorialisierung" sprechen.[11] Dieser Prozess des De- und Reterritorialisierensverdeutlicht sich beispielsweise in der kollaborativen Schreibumgebung "nic-las"[12] von René Bauer und Joachim Maier. Anders als in allen kollaborativen Netzliteratur-Projekten und anders als in vielen kollaborativen Schreibumgebungen ist in "nic-las" das Heraufladen, Löschen, Verändern und Manipulieren von eigenen und fremden Daten in Form von Text, Bild, Film etc. möglich. Ja, "nic-las" thematisiert das Manipulieren, Speichern und Löschen ganz explizit, indem gelöschte Daten aus einem Unterbewussten auf einmal wieder auftauchen können. Der in diesem Abschnitt beschriebene Aspekt der "Durch-Flucht" zeigt, dass nicht nur auf der materialen Ebene des Mediums das Konstitutionsmoment des Transfugalen gilt; es bestimmt auch die Modalitäten des Umgangs, der Produktion und der Rezeption, ebenso wie der Textstruktur.


Performatives Lesen

Doch schliesslich und endlich ist Hyperfiction weniger eine neue Textsorte als eine neue Lektüreweise: Wichtiges Merkmal von Hyperfictions bzw. des neuen Literaturmilieus ist das performative Lesen. Der Leser wird vom Autor ins Stück miteinbezogen und kann eine mehr oder weniger aktive Rolle annehmen. Auf dem Theater ist dieser Umstand nichts neues, in einer Literaturinszenierung auch nicht, in der 1:1-Beziehung zwischen Text und Leser aber schon eher. Denn die Beteiligung des Lesers an einem Text spielt sich normalerweise im eigenen Kopf ab. Man liest und imaginiert das Gelesene und knüpft dabei die Fäden im eigenen Kopf zusammen. Der Hyperfiction-Leser dagegen muss seine Rolle wahrnehmen — und sei dies auch nur über die Entscheidung einen Link anzuwählen und den andern sein zu lassen — denn wenn er nichts tut, entwickelt sich auch keine Story.

Das heisst aber, dass der Prozess des Imaginierens in Hyperfictions externalisiert wird. Das Imaginäre im Kopf wird externalisiert, und es entsteht ein virtueller Raum, in dem der Leser mehr oder weniger eingeschränkt — je nach Hyperfiction — entscheiden und handeln, ja manchmal sogar konkret mitschreiben kann. Der Leser wird also zu einem Mit-Arbeiter am Text. Zwar ist auch das Lesen und Interpretieren eines Buchromans immer ein nicht zu unterschätzendes Stück Arbeit und Mitarbeit — dies soll überhaupt nicht in Abrede gestellt werden —, das Neue an vielen Hyperfictions ist jedoch die Möglichkeit, diese Mit-Arbeit ganz konkret in einem eigens dafür konstruierten bzw. fingierten Raum leisten zu können. In diesem virtuellen Raum kann sich der Leser mittels Navigationshilfen bewegen. Das heisst der Benutzer bewegt sich in diesem Raum wie wenn er ein Schiff übers Meer steuert. Dabei ist das Virtuelle entgegen dem Realen ein Imaginäres, ein erzeugbares Mögliches. Mit der Übersetzung des elektronischen Innenlebens eines Computers in Text und Bild über ein Interface wurde Computer-Virtualität überhaupt geboren. Dabei geht es um eine technisch oder narrativ erzeugte Vision eines Raumes, jedoch nicht um die eigentlichen Datenräume, sondern um einen künstlichen Raum, "den unser Gehirn aus den sinnlich ermittelten Daten erstellt, über den sich unser Bewusstsein sozusagen ‘erhebt' und an den wir als einen wirklichen gerne glauben möchten."[13] Einen solchen virtuellen Raum stellt man sich am besten als dreidimensionales Spielfeld oder eben als Meer vor, auf welchem man sich mehr oder weniger gut — je nach technischer Implementierung — mittels einer Steuerung (bsp. der Navigation eines Schiffes) bewegen kann.

Damit ist auch grob umschrieben, dass zum performativen Lesen von Hyperfictions immer auch ein Moment der Immersion gehört. Der Leser selbst findet sich in einer neuen Welt wieder, in welcher er wie in einem neuen sozialen Raum, Entscheidungen fällen und Handlungen vollziehen kann.





Anmerkungen:

[01] So schreibt etwa Hilmar Schmundt: "Hyperfiction als belletristischer Zweig von Hypertext ist der Versuch, die erzählerischen Experimente der Nachkriegsliteratur mit Hilfe von Elektronenhirnen zu Ende zu denken." Schmundt, Hilmar: Strom, Spannung, Widerstand. Hyperfictions – die Romantik des elektronischen Zeitalters. In: Klepper, Martin, u.a.: Hyperkultur: Zur Fiktion des Computerzeitalters. Berlin, New York: de Gruyter 1996, S. 44 - 67, S. 49.
[02] Rusmann, Frieder: "art wear". Fabrikverkauf. 1999. <http://www.fabrik-ver-kauf.de> (12.10.2000).
[03] Schulze, Gerhard: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt a. M: Campus 1993, S. 166ff.
[04] Suter, Beat, Böhler, Michael (Hgg.): Hyperfiction. Hyperliterarisches Lesebuch: Internet und Literatur. Basel, Frankfurt a.M.: Stroemfeld 1999, S. 8f.
[05] Vgl. Suter/ Böhler 1999, S. 10f.
[06] Vgl. Sandbothe, Mike: Interaktivität – Hypertextualität – Transversalität. Eine medienphilosophische Analyse des Internet. In: Münker, Stefan und Roesler, Alexander (Hgg.): Mythos Internet. Frankfurt a. M.: Suhrlamp 1997, S. 56 - 82, S. 82.
[07] Welsch, Wolfgang: Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996, S. 776.
[08] Welsch 1996, S. 776.
[09] Vgl. Suter/ Böhler 1999, S.10f.
[10] Dies mussten etwa Doris Köhler und Rolf Krause erfahren, deren Projekt ‘Interstory’ bei einem Systemwechsel im Rechenzentrum der Universität Hamburg 1998 aus Versehen vollständig gelöscht wurde und unwiderruflich verloren ist.Vgl. Köhler, Doris und Krause, Rolf. "Interstory". Dito. 1995/1996. <http://interstory.rrz.uni-hamburg.de/> (12.03.1998).
[11] Vgl. Deleuze, Gilles und Parnet, Claire: Dialoge. Frankfurt a. Main: Suhrkamp 1980.
[12] Vgl. Bauer, René, Maier, Joachim: «Nic-las». Dito. 1998 – 2000. <http://www.nic-las.com> (20.11.2000).
[13] Krapp, Holger und Wägenbauer, Thomas (Hgg.): Künstliche Paradiese – Virtuelle Realitäten. München: Fink 1997, S.7f.

© Beat Suter, 30.11.2000