Forum Aesthetik digitaler Literatur, Kassel 21.10.2000




Reinhard Döhl
TanGo & Co. - Bericht über einige Stuttgarter InternetProjekte


Der Tod eines Fauns | Pietistentango | Worm Applepie | Poemchess | Kill the Poem
 
 

Als sich 1994 auf dem Stuttgarter Symposium Max Bense Wissenschaftler und Künstler trafen, ging es retrospektiv um die internationalen Wechselbeziehungen der Stuttgarter Gruppe / Schule [ Als Stuttgart Schule machte]. Aber Johannes Auer und ich begannen infolge dieses Symposiums auch, in der Tradition früherer Stuttgarter Experimente (Computertexte und -grafik; konkrete und visuelle Poesie) die reproduktiven und produktiven Möglichkeiten des Internets zu diskutieren, indem wir einzelne Texte dieser Art zu den Spielregeln, d.h. technischen Bedingungen des Internets eingaben,

  • wobei erstens für uns nahe lag, vom Gedanken der poetischen Korrespondenz, der poetischen Vernetzungen auszugehen,
  • wobei uns zweitens der bewußte Verzicht auf technisches Überziehen vorrangig war zu Gunsten präziser experimenteller Reflexion der grundlegenden Möglichkeiten von Computer, Netz und Literatur.
Ich habe dies unter anderem dargestellt in Vom Computertext zur Netzkunst und rekapituliere nur ein paar mir im heutigen Zusammenhang wichtige Punkte:

Grundsätzlich unterschieden und unterscheiden wir zwischen

  • im Netz lediglich veröffentlichten und
  • Texten, die nicht für das Netz geschrieben aber für eine Realisierung im Netz geeignet sind,
  • und - in ihrer Fortführung - schließlich Netztexten, also Texten, die mit Hilfe des Computers zu den Bedingungen des Internets erstellt werden.
Dabei gingen und gehen wir aus vor allem von visuellen und akustischen Texten nicht nur der konkreten Poesie, wie sie bereits um 1920, insbesondere in den 50er und 60er Jahren praktisch und theoretisch auch in Stuttgart erprobt wurden. Diese lassen sich nach unserem Verständnis nicht nur im neuen Medium fortführen, sondern scheinen sogar - als Beispiel nenne ich die Permutation wie jede Art von Textaleatorik - für diese Möglichkeit der Realisierung geradezu prädestiniert, ob nun als reine Hypertextstruktur, als animiertes GIF, als Java-Applet oder -skript. Die Möglichkeiten sind hier bei weitem noch nicht ausgeschöpft.

Inzwischen haben wir, um unsere These zu überprüfen, daß diese früheren Experimente, Strukturen und Traditionen die ästhetischen Spielmöglichkeiten des Internets bereits antizipieren, einzelne Texte dieser Art zu den Spielregeln, d.h. technischen Bedingungen des Internets eingegeben: als permutationellen Text den Tod eines Fauns (1997), als konkrete Texte Teile aus Das Buch Gertrud (1996), als visuelle Texte im Rahmen des TanGo-Projekts von Martina Kieninger den Pietistentango und Kill the Poem (1998) und als aleatorischen Text Makkaronisch für Niedlich (1997).

Ich gebe zunächst ohne weiteren Kommentar als Beispiel die Permutation Tod eines Fauns, die, ursprünglich als zweisprachiger Kommentar zu Pinselzeichnungen entstanden, mein umfangreiches Mallarmé-Projekt von 1989/1990 abschloß.

Dieser und andere in unseren Augen bereits produktive, mit Stuttgart verbundene Internetbeiträge entstanden wie unsere größeren Internetprojekte oft aus aktuellen Anlässen:

Projekte, die wir z.T. mit Ausstellungen verbanden oder die den virtuellen Teil von Ausstellungen bildeten .

Ohne konkreten Anlaß realisierte sich unter Stuttgarter Beteiligung Martina Kieningers TanGo-Projekts, über dessen Stuttgarter Beiträge ich vor allem zu sprechen habe.

Zum TanGo-Projekt allgemein verweise ich auf Martina Kieningers Arbeitsbericht, Vom Schreiben auf glatten Oberflächen. Zur Geschichte des MehrautorenProjekts Tango und yber Schwierigkeiten bei der Realisation eines mehrsprachigen Projekts. Über die Ausgangsseite des TanGo-Projekts ebenfalls leicht erreichbar ist ein weiterer hier einschlägiger Essay Johannes Auers, Der Leser als DJ oder was Internetliteratur mit HipHop verbindet.

Ein Teil dieser Beiträge ist mit anderen Stuttgarter Internetproduktionen auch in Beat Suters edition cyperfiction auf der CD kill the poem. digitale visuell-konkrete poesie und poem art leicht zugänglich, und damit gewissermaßen auf die Festplatte (zurück)gewandert. Wozu ich anmerken möchte, daß unserer Auffassung nach die Hervorbringungen neuer Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der CD das gemeinsame Aufzeichnungsmedium gefunden haben. Die gelegentlich vertretene These, eine solche Möglichkeit der Aufzeichnungs spräche gegen die Originalität eines richtig verstanden nur im und durch das Netz relevanten Netztextes / relevanter Netzkunst, greift unserer Auffassung nach zu kurz.

Ich will jetzt versuchen, einige dieser Stuttgarter Produktionen etwas ausführlicher vorzustellen.

Die Produktion des Pietistentango, wie das ganze TanGo-Projekt war von einer mailart-Aktion begleitet, die anläßlich der Projektvorstellung im Dezember 1998 im Goethe-Institut in Montevideo dokumentiert wurde. In meinem Fall enthielten die Karten an Johannes Auer alle möglichen sinnvollen Buchstabenkombinationen des Worts Pietisten: z.B. ist, piste, pisten, stein, steine, niest, nest, pest, pein, pst, psi, sein, ein, nie, ei, niete undsofort. Diese Buchstabenkombinationen treten in der Realisation in 6 Spielfeldern, die den 6 Silben des Wortes Pietistentango entsprechen, zu wechselnden Konstellationen zusammen, undzwar in einem Rhythmus, der dem Schritt, Schritt, Wiegeschritt des Tango entspricht.

Gleichzeitig sind die 6 zwischen Schwarz und Weiß wechselnden Spielfelder besetzt mit den Wörtern urbs (2mal), niger, umbra, umbrae und vitae, die von oben nach unten gelesen folgende Kombinationen ergeben:

  • Links urbs niger, was natürlich Stuttgart meint und mit Nikodemus Frischlins bekannterem Stuttgart-Gedicht, genauer der Zeile urbs jacet ad Nicri colles in valle reducta [spielt.
  • Rechts zitiert umbra vitae die nachgelassene, von Freunden zusammengestellte, und dabei textlich manipulierte, düster gestimmte Gedichtsammlung Georg Heyms, mit der er posthum populär wurde.
  • Die in der Mitte plazierte urbs umbrae verbindet beide.
Wenn man so will laufen beim Pietistentango also zwei Texte gegeneinander, die sich kommentieren, die sich aber auch, wenn man versucht, lediglich den Vorgang auf dem Bildschirm wirken zu lassen, unambitioniert als kinetische Kunst auffassen lassen.

Ähnliches gilt für das Ziegenballett, dem eine von mehreren Collage-Folgen zugrunde liegt, die mit einer Fabel-Illustration Gustave Dorés, Les deux chèvres, spielen.

Das Ziegenballett besteht aus mehreren Orten, die nacheinander besichtigt werden wollen. In der gedachten Reihenfolge wäre dies zunächst ein virtueller Ziegenstall, der aus zwei Abteilungen besteht, der Originalbesetzung und einer bereits farbig manipulierten Zweitbesetzung, die dann drittens das Ballett tanzt.

Das Ziegenballett leugnet seine Herkunft aus bildender Kunst und über sie vermittelter Literatur nicht, führt beides aber in doppelter Hinsicht fort, wobei die 32 Collagen der Originalbesetzung mit Methoden erarbeitet wurden, die einer Grafik-Bearbeitung am Bildschirm bewußt analogisiert sind, z.B. dem Zerlegen des Bildes, dem Spiegeln und Drehen seiner Teile usw.

Les deux chèvresillustriert eine Fabel, die von zwei Ziegen erzählt, die aus lauter Rechthaberei und Dickköpfigkeit nicht aneinander vorbei kommen (was von La Fontaine mit einem historisch/politischen Fingerzeig ausgestattet wird (so, denk' ich, war's, als mit dem Großen Ludwig schritt Spaniens Philipp der Vierte weiland nach jenem Konferenzeneiland) [zit. in der Übersetzung von Ernst Dohm].

Meine Fortführung (diesen Begriff im Verständnis der Stuttgarter Schule) besteht nun darin, daß ich die Ziegen aneinander vorbeikommen lasse. Das Ballett wird also von artefiziell in Freiheit gesetzten Ziegen getanzt, oder - anders gesagt - von Ziegen, die sich gegenüber der ihnen in der Fabel zugeschriebenen Rolle die Freiheit nehmen - wiederum freilich in einer ihre Bewegungen festlegenden Choreographie.

Ich möchte hinzufügen, daß dies von mir, im Vertrauen darauf, daß der Benutzer den historisch/politischen Fingerzeig La Fontaines erinnert, durchaus auch politisch gedacht ist.

Und ich gestehe zugleich, daß ich hier mißtrauisch sein sollte, gewarnt durch das flachsinnige Verständnis, das meinen Apfel nun schon seit über dreißig Jahren begleitet, das allenfalls den Wurm im Apfel sieht und dabei nicht einmal die Bedeutung der zuständigen Redewendung reflektiert, geschweige denn gegenwärtig hat, daß Äpfel, Wurm und/oder Schlange in der Mythologie in der Regel Verhängnisvolles zur Folge zu haben pflegen.

Wenn in Johannes Auers Worm Applepie der vollgefressene Wurm sich zu seiner ursprünglichen Größe zurückverdaut, hat er auch diese Vergeßlichkeit mehr als eine Wiederkehr des ewig Gleichen im Sinn.

Daß Johannes Auer das andere auch und zustimmend gesehen hat, kann ich hier nur mit dem Hinweis auf eine einschlägige Postkarte(mail art) mit der Einschrift Drei Stunden später begann der dritte Weltkrieg belegen.

Mit Textspielen haben wir in Stuttgart in den verschiedensten Formen experimentiert, mit Spielen, die sich reproduktiv spielen lassen, und solchen, die produktives Mitarbeiten der Benutzer verlangen, damit sie glücken.

Für den ersten Typus nenne ich das in der Tradition japanischer Kettengedichte konzipierte Poemchess, das sich auf verschiedene Weise spielen läßt: einmal mit Hilfe der bereitgestellten Figuren Dame, Turm, Läufer, Springer und ihren Bewegungsmöglichkeiten, aber auch, indem man z.B. nach berühmten Endspielen die Schachfelder anclickt und so ein reales Schachspiel in einen internationalen virtuellen Text übersetzt

  • Dieses Poemchess ist diologisch und international (Schwäbisch, Deutsch, Französisch, Tschechisch, Russisch, Japanisch, Türkisch und Englisch).
  • Zwischen den Dialogen seiner Autoren stellt der LeserAlsSchachspieler mit seinen den Regeln entsprechenden Zügen weitere mehrsprachige Dialoge und damit seinen multilingualen Text her.
  • Daß ergibt praktisch zwei sich überschneidende Dialoge,
- einen ersten Autordialog aus 8 Kettengedichten, der das Grundtextgerüst des Schachspiels herstellt,
- und einen zweiten zwischen diesem Grundtext und dem Leser, der individuell und variabel nach den Regeln des Spiels seinen
Text, seine Texte herausliest.
Daß dieses Unternehmen Marcel Duchamp gewidmet ist, versteht sich beinahe von selbst.
 

Andere Textspiel-Experimente, die wir angestellt haben, verlangen vom Benutzer produktive Mitarbeit, d.h. er kann und muß einen vorgegebenen Text in Zeilen/Teilen oder zur Gänze verändern. (Auch dies in der Stuttgarter Tradition der Fortführungen).

In diesem Fall haben wir wiederholt Texte zum Verändern in Echtzeit bereitgestellt:

  • anläßlich der Ausstellung virtuelle verrueckungen
  • oder des Stuttgarter Multimedia Avantgarde-Festivals Filmwinter
  • und eben auch zum TanGo-Projekt.
In seinem Fall hatten wir drei Basistexte zur Auswahl,
  • eine visuell sehr festgelegte Permutation über Das Verschwinden des Tangos im Internet, die wegen ihrer visuell-typografischen Festlegung ebenso ausschied wie
  • der Vorschlag von Tango-Tankas, weil wir nicht darauf vertrauen wollten, daß der/die Mitspieler sich in der 5-7-5-7-7 Struktur des japanischen Tanka auskennen.
So blieb als Textvorgabe schließlich ein einfaches Mesostichon: Tanga oder Paris
Anfang
November
Gehen die Uhren nach
Oder Tango
Paris das
Reimt sich wie
Orte und Treibsand
Südlich der Milchstraße
Paris meine Liebe
Einmal noch - c'est
Kif-kif - noch einmal
Tango im Tanga
Dieses Gedicht ist von Frank Amos so eingegeben, daß wir nicht nur die Namen der Mitschreiber und oft auch ihre Adressen haben, sondern daß die Textzustände dokumentiert bleiben und abgerufen werden können. Ich zitiere als Beispiel einen der meiner Meinung nach spannendsten Textzustände einschließlich seiner realen oder (meist) fingierten Autoren:
 
TangoTanga 28.04. '98
hab sonne im herzen
  caesar flaischlen
und vollmond überm bärensee.   fred wiesen
mehr wäre dazu nicht zu sagen   helmut heißenbüttel
am horizont erscheint   derselbe
verführerisch der morgenstern   die heiligen drei könige
tango im tanga   melusine
keine hoffnung auf donnerstag   freitag
freitags fisch   melusine
die schwänze sind auch nicht mehr   lichtenberg
was sie leipzigeinundleipzig mal waren   sächsischer biederkopf
überhaupt zählen rücklage und rückschritt   der pfuinanzminiter
eher zu den fußnoten im brehm   günter eich
und zum kleinen einmaleins   hilbert
konsperativ im Ursprung   detlef biehn
wie sonne im herzen   caesar flaischlen
aber sie dreht sich doch   doris ernst
und das bei diesen temperaturen   wetterfrosch
     
 
Daß der vorgegebene Text im Laufe der Zeit im positiven wie mehr im negativen Sinne den Anspruch wechseln würde, war uns bewußt. Spannend blieb, was die Veränderungen ablesen ließen. Ich darf hier einige unserer Beobachtungen zusammenfassen.
  • In vielen Fällen unterschieden sich die Textveränderungen nur geringfügig von überall anzutreffenden Graffiti-Elaboraten.
  • Andere Leser/Mitschreiber wollten sich nicht auf den Text einlassen sondern eigene Meinungen (nicht nur politischer Art) loswerden.
  • Wenn auch inhaltliche Anspielungen verstanden und aufgegriffen wurden, die ursprüngliche Mesostichonstruktur des Textes blieb unentdeckt oder wurde einfach nicht beachtet.
  • Gelegentlich - ich habe beim Textzustand vom 28.4.98 deshalb auch alle von den Einsendern angegebenen Namen genannt - kam es aber zu vergnüglichem Spiel im Spiel, wurde Literatur zitiert: Heißenbüttel, einmal authentisch, einmal fingiert, Günter Eich, Lichtenberg, wenn man sein Fragment von Schwänzen kennt, oder der Robinson Crusoe mit dem Eintrag keine hoffnung auf donnerstag und dem figierten Einsender freitag. Ähnlich wird der in einem früheren Textzustand Klopstock zugewiesene Vollmond überm Bärensee jetzt dem unbedarften Herausgeber eines Stuttgarter Wochenblatts zugeschrieben usw.
Trotz solcher Ausnahmen haben uns die Erfahrungen mit diesen Textspielen das anfängliche Vertrauen in eine kollaborative Autorschaft gründlich ausgetrieben, so daß wir heute, ähnlich übrigens wie Susanne Berkenheger, vom gesteuerten Leser ausgehen.

Es liegt im Willen des im Internet veröffentlichenden Autors, wie weit er dem Leser bei der Lektüre freie Hand geben will, was die Frage nach der vielbeschworenen Interaktivität, die wir lieber Dialog nennen würden [Ansätze und Möglichkeiten künstlerischen Dialogs und dialogischer Kunst], mit einschließt. Ich nenne wiederum Stuttgarter Belege:

Das Poet's corner'le, ein work in progress aus Texten aller in Stuttgart geborenen und/oder verstorbenen, kurzfristig oder länger anwesenden aber auch vertriebenen Autoren, als eine offene und variable Anthologie der Stuttgarter Schriftkultur,

  • offen, weil die Autoren/Texte ständig um neue ergänzt und soweit möglich vernetzt werden können,
  • variabel, weil die eingegebenen Texte jederzeit auf Wunsch der Autoren, der Leser oder der Herausgeber ausgetauscht werden können und sollen,
  • interaktiv, weil ein Dialog zwischen Leser und Texten in ihrer Vernetzung stattfindet.
Ich nenne noch einmal Frieder Rusmanns heute morgen bereits vorgestellten Fabrikverkauf [art-wear] [walking exhibition]
  • der die Affirmation von community und e-commerce subversiv zum Anlaß einer vom Nutzer selbst zu gestaltenden Kunstperformance, eben der [walking exhibition] nimmt.
Ich nenne drittens die von Klaus Schneider angezettelten Kettenmailsausderbadewanne als ein Textunternehmen zu e-mail-Bedingungen:
  • In ihnen findet der Dialog zwischen einem Ausgangstext und einem Leser/Autor statt, der mit seinem Text auf die Vorlage reagiert und seine Version einem weiteren Leser/Autor zur Reaktion und Redaktion überläßt der undsoweiter.
Wobei es sicher richtig ist, hier an den Briefroman und seine Spielformen zurückzudenken, in deren Tradition sich diese Kettenmails auch lesen ließen, wie überhaupt das Netz die Chance einer neuen Briefkultur böte, was im Verlaufe der gestrigen Diskussion ja ebenso angesprochen wurde wie die denkbare Tradition einer Fußnotenprosa, Zettelkastenpoesie oder der Collage-Technik.

Und ich nenne noch einmal und viertens das in der Tradition japanischer Kettengedichte konzipierte Poemchess.

Dienten das Poemchess und die offenen Textspiele dazu, Texte mit Hilfe der Benutzer zu verändern und variabel zu halten, zielt ein letztes Beispiel aus dem TanGo-Projekt, Johannes Auers Kill the Poem, auf Text-Zerstörung und Infragestellung des Autors.

Gegeben ist erstens ein permutationeller Text:

keine faxen mit tango ist ernst kein tango ist ernst mit faxen keine faxen ist tango mit ernst mit tango ist ernst ohne faxen mit ernst sind faxen ohne tango mit tango ist faxen ohne ernst mit faxen ist ernst [...].
Gegeben ist zweitens die Möglichkeit, mit martialischem Gestus schrittweise einzelne Wörter aus diesem Text herauszuschießen, zunächst faxen, dann - ich fasse zwei Schritte zusammen - die Wörter ohne und mit, dann - ich fasse wieder zwei Schritte zusammen - die Wörter kein(e) und ist/sind, dann ernst und als letztes tango, bis schließlich der ganze Text abgeschossen ist, mit der Möglichkeit freilich, ihn danach neu zu laden.
Was Johannes Auer dem bildschirmaktiven Leser demonstrieren will, was der Leser bei seinem Tun erkennen soll, ist, wenn ich es recht verstehe, dasselbe, was ich mit dem Verschwinden des Tangos im Internet wollte, einmal die Demontage eines Artefakts und zugleich die Demonstration seiner Unzerstörbarkeit. Wir sind jedenfalls davon überzeugt, daß auch Kunst sterben darf und zugleich wieder aufersteht, und fordern dies sogar als ihr Grundrecht.

Das läßt sich in Kürze nicht weiter ausführen. Ich verweise stattdessen auf eine uns wichtige Parallele aus der Kunstgeschichte, den Moment nämlich,

  • als Hans Arp vorschlug, Laokoon zu klistieren, um ihm nach tausendjährigen Ringkampf mit der Klapperschlange endlich das Austreten zu ermöglichen, wichtiger noch,
  • als Marcel Duchamp die Mona Lisa mit Bärten und der Subscriptio L.H.O.O.Q [Elle a chaud au cul] ausstattete, um dies 1965 mit einem L.H.O.O.Q. rasée zurückzunehmen.
Arps Purgierungsaktion, Duchamps ready made zielen dabei nur vordergründig auf des Portrait Leonardo da Vincis, die Laokoongruppe, im Grunde haben sie deren Rezeption, eine sich an ihr orientierende Kunstauffassung und -produktion im Visier.

Entsprechend fordert Kill the Poem den Leser nicht nur zu ikonoklastischer Tat auf, sondern bietet ihm die Möglichkeit, seine Tat zumindestens äußerlich ungeschehen zu machen. Er sollte aber auch anregt werden, seine spontane Bereitschaft zu inkonoklastischem Tun zu reflektieren. Wobei interpretatorisch nicht unwichtig ist, daß hier kein literaturgeschichtlich sanktionierter Text, kein zur Anbetung aufbereiteter Künstler zum Abschuß bereitgestellt ist, sondern ein Text in der Tradition des konkret permutationellen Gedichts mit nur geringer Autorpräsenz.

 





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