Narrative Zeit

Das wesentliche Charakteristikum einer Erzählung ist die Reihenfolge, in der die einzelnen Episoden erzählt werden sowie ihr Verweisen auf ein finales Ereignis bzw. die Auflösung. Wenn wir diese Annahme zugrundelegen, dann wird die Erzählung sowohl hinsichtlich ihrer Struktur als auch hinsichtlich ihrer Funktion und ihres Ziels eine Erklärung, die entlang der narrativen Zeitlinien entwickelt wird.

Genette unterteilt narrative Zeit in drei Kategorien, die jeweils als Relation zwischen dem einzelnen Ereignis und dem narrativen Ganzen gesehen werden müssen: erstens Reihenfolge, zweitens Dauer und drittens Frequenz. So ist die Reihenfolge eines gedruckten narrativen Textes die Beziehung zwischen den Zeitlinien der narrativen Welt einerseits und ihrer spezifischen Anordnung in der Erzählung andererseits. Genette beschreibt diese Reihenfolge als festgesetzte Größe, die sich meiner Meinung nach als charakteristisch für die Materialität des gedruckten Buches erweist. Computerspiele können nicht mit denselben Begriffen beschrieben werden. Weder ist die Reihenfolge einzelner Episoden festgelegt, noch ist die Reihenfolge des gesamten narrativen Textes festgelegt. Die Chronologie der Ereignisse und Orte ist austauschbar. In Myst sind die einzigen Fixpunkte Orte, an denen ein Kode geknackt werden muß oder die Orte an denen sich die Bücher und Buchseiten befinden. Der Beginn und das Ende unserer Reise sind festgelegt, aber es gibt keine Reihenfolge in Genettes Sinn. Innerhalb dieser wenigen festgelegten Punkte gibt es vielfältige Möglichkeiten mit unterschiedlichen Chronologien und nicht eine einzige festgelegte Reihenfolge.

Wie sieht es mit der Anwendbarkeit der Kategorie Dauer aus? Dauer in Genettes Bedeutung bezieht sich auf die Zeit (sprich Seiten), die einem Ereignis im Gesamtkontext einer Erzählung eingeräumt wird, so daß es zu unterschiedlichen Tempi innerhalb einer Erzählung kommt. Der Effekt ist Beschleunigung, Verzögerung, Ellipse. Da Zeit im Computerspiel abhängig von der Ausführung eines Spielers ist und nicht vom Raum, den ein Autor einem Ereignis zuschreibt, ist die Kategorie der Dauer keine gegeben Größe.

Nur Frequenz oder Wiederholung scheint eine Zeitkategorie zu sein, die für Computerspiele ihre Gültigkeit hat. Das Beispiel Myst zeigt, daß Frequenz eine der wichtigsten Kategorien überhaupt darstellt. Die Bibliothek - der zentrale Ort in Myst - muß immer wieder aufgesucht werden, um Seiten in die Bücher einzulegen oder Informationen über die Kodes zu finden. Die ständige Rückkehr zu demselben Ort führt dazu, daß Zeit in Myst als zyklisch erfahren wird. Der Zyklus der Ereignisse führt zu dem finalen Ereignis und zur Lösung des Spiels, die nicht als kausale Reihenfolge oder Sequenz angelegt sind, sondern als Teilchen eines Puzzles, die zusammengefügt werden müssen.

Die Beschreibung digitaler Medien muß um eine weitere Zeit-Kategorie ergänzt werden, die in Genettes Modell nicht beschrieben wird. Diese neue Kategorie kann als Punkt-zu-Punkt (vgl. auch Meyer 1998) beschrieben werden. Myst bietet seinen Spielern einen Modus des Springens an, um an zuvor besuchte Orte direkt zurückzukehren, ohne den ganzen Weg zurücklegen zu müssen. Sicher, dieses ist eine Form der Ellipse, und dieser Begriff taucht auch bei Genette als eine Form der Zeit-Kategorie Dauer auf. Nur: Ellipse in dieser Form, wie sie in Myst benutzt wird, muß in Relation eines Ereignisses zu seiner Wiederholung gesehen werden und nicht wie bei Genette als Relation des einzelnen Ereignisses zur gesamten Erzählung. Deshalb ist diese Form der Ellipse von Genettes Beschreibung verschieden.

Genettes Konzept von narrativen Zeit als Zeitlinie ist untrennbar mit Erzählungen im Medium des gedruckten Buches verbunden, denn in diesem wird Zeit von einem Anfang über verschiedene Zeitmarkierungen bis zu einem Ende konstruiert. Intervalle werden gesetzt, innerhalb derer Zeitlinien sich entwickeln. Zeit in einem digitalen Medium hingegen ist zufällig und unvorhersehbar und untrennbar mit der Erfahrung eines Lesers oder Spielers im digitalen Raum verbunden. Zeit ebenso wie Raum wird auf diese Art und Weise verdichtet, und ermöglicht so vielfältige Lesarten und Perspektiven. Die besondere Bedeutung der Kategorie Raum, der scheinbar eine ungleich wichtigere Rolle in Computerspielen zukommt als der Kategorie Zeit, liegt einerseits in der Organisation des Mediums begründet, andererseits aber in der Individualisierung der Lese- oder Spielerfahrung, die jeweils andere Zeitlinien je nach Vorgehensweise eines Spielers generiert. Das Ergebnis ist eine Multiplikation der narrativen Möglichkeiten innerhalb eines begrenzten gegeben Raumes.

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