Reinhard Döhl
Text als Partitur (1)

 

 

Von Stéphane Mallarmés "Coup de dés" zu Paul Pörtners "Alea".

Daß und in welcher Vielfalt die Musik Gegenstand der bildenden Künste und der Literatur sein kann, muß nicht ausdrücklich erwähnt werden. Daß und in welchem Maße die Partitur im 20. Jahrhundert als Grafik erscheinen kann, daß Grafiken sich musikalisch interpretieren lassen, habe ich als eine mögliche Grenzüberschreitung der Künste im Kapitel "Schrift und Bild angedeutet"

Analog zur graphischen Partitur, zur Graphik als Partitur sind die folgenden Kapitel Text als Partitur überschrieben. Damit ist zunächst nichts weiter gemeint als die Tatsache, daß es in der Literatur der des 20. Jahrhunderts Texte gibt, die als Partitur deklariert, konzipiert oder realisiert sind und damit für sich etwas in Anspruch nehmen, was eigentlich Sache der Musik wäre. Der Text als Partitur ist, soweit ich weiß, bisher systematisch weder diachron noch synchron untersucht worden. Ich konzentriere mich deshalb, um die Komplexität dieses Themas wenigstens anzudeuten, auf drei Fallbeispiele.

[O-Ton-Ausschnitt aus Paul Pörtners "Alea"]

Dies war ein Ausschnitt aus Paul Pörtners akustischem Spiel "Alea", einem für die Geschichte des Neuen Hörspiels, der akustischen Kunst zentralen Werk, das in seiner Bedeutung bis heute kaum erkannt ist. Es teilt dieses Schicksal mit seiner Vorlage, mit Stéphane Mallarmes "Un coup de dés", einem bisher allenfalls unzureichend verstandenen wie übersetzten und dennoch wegen seiner Komplexität in alle Kunstarten hinein wirkenden poetischen Entwurf.

So hat sich nicht nur Paul Pörtner, 1965 zum ersten Mal in seiner "Schallstudie II", 1969/1970 in einer ersten, 1971 in einer zweiten Fassung von "Alea" sich um diesen Text und die Poetik Mallarmés bemüht. Auch der französische Komponist, Dirigent und Musikschriftsteller Pierre Boulez beschäftigte sich seit spätestens 1948/1949 immer wieder, in Gespräch und Publikation, als Komponist und als Dirigent mit seinem Landsmann. Ich selbst habe 1989/1990 ein umfassendes graphisches und typographisches Mallarme-Projekt abgeschlossen und 1991 [im Institut Francais Stuttgart] in Auswahl gezeigt.

Natürlich gibt es weitere Vertonungen, Illustrationen zum Mallarméschen Werk, aber sie weisen sich nicht durch eine vergleichbare Intensität der Auseinandersetzung aus, so daß sie im Folgenden unberücksichtigt bleiben dürfen, ausgenommen den Hinweis, daß das Museum Winthertur 1992 [?] in Ausstellung und Katalog die Breite dieser Auseinandersetzung umfassend dokumentiert hat.

Meine Aufmerksamkeit konzentriert sich ausschließlich auf die unterschiedlichen Bemühungen Pierre Boulez' und Paul Pörtners, wie auf das schmale literarische Werk Stephane Mallarmés, und hier vor allem auf "Un coup de dés", den "Würfelwurf".

Am 18. März 1992 Jahres wäre Mallarmé 150 Jahre alt geworden, ein Datum, das in der Regel Anlaß für Veranstaltungen, Erinnerungen der unerschiedlichsten Art ist. Die Frage, warum sich die Medien im Falle Mallarmés auffallend zurückhielten, ist nur schwer zu beantworten. Denn nicht nur Spezialisten ist der Name Mallarmé, ist zum Beispiel sein "L'apres-midi d'un faune" durch das gleichnamige "Prélude" Claude Debussys durchaus vertraut. War also die Schwierigkeit, das komplexe Werk Mallarmés zu vermitteln, der Grund für diese Zurückhaltung? Oder hat sich, bei einem kulturschichtlich zunehmenden Kurzzeitgedächtnis, inzwischen Anderes, Spektakuläreres in den Vordergrund gedrängt, das den eigentlichen Wurzelgrund der Moderne verdeckt.

Pierre Boulez hat dies bereits 1956 in "La corruption dans les encensoirs" ("Die Korruption in den Weihrauchfässern") vermutet, in einem Essay über Claude Debussy, dessen "Prélude" er wie kein zweiter zu dirigieren weiß. In diesem Essay geht es Boulez auch um die These einer Trias Debussy-Cezanne-Mallarmé als Wurzel aller Modernität, die zu vertreten schwierig sei, da nach diesen drei großen Meistern [...] andere Große auf den Plan getreten seien, deren Umwälzungen stärker in die Augen sprangen. Ich zitiere:

Die zeitgenössische Wahrheit - oder das zeitgenössische Schaffen verlangte Ungestüm, beinahe Demonstration: notwendige Oberflächenschocks, welche die verschiedenen, neu auftretenden Aspekte dieser Wahrheit von Grund auf veränderten. Jetzt, wo mit Axtschlägen geformt, ein neues Gestaltungsprinzip hervorgetreten ist, sieht man sich - was Ruhm und Revolution angeht - merkwürdigen Überraschungen ausgesetzt; man wird zunächst skeptisch gegenüber dem Befund, daß diese brüsken und gewaltsamen Veränderungen jene Wandlungen beiseite gedrängt haben sollen, die zwar im Augenblick weniger spürbar, auf weite Sicht aber umso umwälzender sind. Der Symbolismus wurde von Apollinaire, dann von der surrealistischen Revolution hinweggefegt; der Kubismus griff über Cezanne hinaus; das Fagott des "Sacre" ersetzte die Flöte des "Faun", und "Pelleas" emigrierte von Paris nach Wien. Und doch, das Wetterleuchten des "Coup de dés" läßt gewisse surrealistische Blitze, die nur auf farblose Leute Eindruck machen, fahl erscheinen; die "Montagnes Sainte-Victoire" bewahren eine höhere und geheimnisvollere Aura als die meisten Inkar-nationen des Kubismus und der Abstraktion; und nachdem die Barbarei ihre Haare geglättet hat und die hypnotischen Übersteigerungen abgeebbt sind, erscheint uns der Widerhall, der von "Jeux" ausgeht, noch immer wie von einem unangreifbaren Geheimnis umgeben. [Anhaltspunkte, 9 f.]

Zur Erläuterung: das "Sacre [du printemps]" ist eine frühe Komposition Strawinskis; dem ursprünglich von Debussy nach Maeterlinck komponierten drama lyrique, "Pelleas und Melisande", folgte 1903 in Wien von Schönberg eine "Symphonische Dichtung für Orchester< (op. 5) gleichen Titels; die "Montagnes Sainte Victoire" fassen die Arbeiten zusammen, die Cezanne dem "Mont Ste Victoire" (1883, 1885/86, 1885-87, 1900-02, 1904, 1904-06 gleich dreimal gewidmet hat und die sich heute in Museen in New York, Yokahama, Washington (D.C.), Edinburgh, Philadelphia, Kansas City und in Schweizer Privatbesitzt befinden. "Jeux" ist wiederum eine Komposition Debussys.

Nun ist die Janusköpfigkeit radikal sich gebärdender Avantgarde für Boulez keine Frage. Gewaltsame Kühnheiten, weiß er, mischen sich mit befremdlichem Konservatismus. Und er hält dagegen, daß umgekehrt [...] eine weit weniger revolutionäre Haltung etwas Neues zutage fördere, das möglicherweise erst nach langen Jahren assimiliert werde [Anhaltspunkte, 10]. Entsprechend attestiert er Mallarmé einerseits eine gewisse Geziertheit [...], die Teil einer Fin-de-siecle-Haltung sei [Wille und Zufall, 108], vermutet, auf die ihm folgende Literatur bezogen, bei Rimbaud zum Beispiel [...] in mancher Hinsicht wahrscheinlich mehr 'Erleuchtung' als [bei] Mallarmé [ebd.].

Andererseits sei seine Auseinandersetzung mit Mallarmés Dichtung keinesfalls ein Rückgriff, sondern wahrscheinlich sogar ein Fortschritt. Was ihn an Mallarmé reize, sei die ungewöhnliche formale Dichte. Schon der Inhalt seiner Gedichte ist außergewöhnlich, sie haben eine recht eigenartige Mythologie; aber auch die Syntax der französischen Sprache wurde nie soweit getrieben. [...] Mallarmé suchte die Grundgegebenheiten der französischen Grammatik neu zu überdenken. Seine Dichtungen zeigen dies in überaus konzentrierter Weise. Selbst seine Prosaschriften [...], selbst seine Vorträge verraten noch Spuren des hartnäckigen Bemühens, die französische Sprache mittels einer leicht veränderten Syntax zu erneuern. Das hat auf mich den meisten Einfluß gehabt. [Ebd.]

Mallarmés Arbeit an und mit der Sprache mehr als dem Arbeiten in der Sprache galt demnach Boulez' Aufmerksamkeit. Nun wäre dies eher ein Interesse des Linguisten, des Literaturwissenschaftlers, ginge es hier nur um eine Erneuerung der Sprache mittels leicht veränderter Syntax. Hinzu kommt aber ein Zweites: daß für diejenigen Autoren, die Boulez bis dahin vertont hatte, unter ihnen René Char und Henri Michaux, die eigentliche Syntax die formale Arbeit, die Anordnung der Worte, ihr Zusammenhang, ihre Klanglichkeit [...] kein grundlegendes Bedürfnis war [ebd.]. Das aber - Komposition und Klang - sind Fragen des Musikers, des Komponisten. Und nicht zufällig ist eines der beiden Mallarmé betreffenden Gespräche Boulez' mit Celestin Deliage "Gleichklang mit Mallarmé" überschrieben.

Dieser Gleichklang, die Gespräche mit Célestin Deliège sowie Boulez' gesammelte Essays lassen es leicht abhören und -lesen, ist vielschichtig und schließt nicht nur das Gesamtwerk Mallarmés, sondern auch die Flöte des "Faun" mit ein.

[O-Ton: Anfang von Claude Debussys "Prélude a l'après-midi d'un faune"]

Bis heute hat Boulez immer wieder diese von Debussy musikalisch adaptierte Ekloge dirigiert und als ihr Dirigent indirekt auch auf jene ihm wichtige Trias Debussy-Cezanne- Mallarmé als Wurzel aller Modernität gewiesen. Wobei Dirigent nicht einmal das richtige Wort ist. Boulez hat in "Die Motivationen des Dirigenten" für sich, ähnlich wie später Paul Pörtner bei seiner Realisation von "Alea" für den Hörspielregisseur, den Begriff des Operateurs gewählt bzw. bezeichnenderweise bei Mallarmé entlehnt.

Im Falle des "Livre pour quatuor a cordes", seiner zwei Fassungen, für die sich Boulez auch auf Cezanne bezieht, liegt, wie das hier einschlägige Gespräch mit Deliège erhellt, eher eine Wahlverwandtschaft vor. Denn Boulez kannte, als ihm 1948/1949 die Idee eines Buches für Streichquartett kam, den "Livre" von Mallarmé noch nicht. Dennoch muß Boulez diese Mallarmésche Konzeption des offenen Buches, die auch für Pörtners Realisationen von großer Bedeutung ist, aus seiner Mallarmé-Lektüre erspürt haben, entdeckte er doch

beim Lesen von "Igitur" und vom "Coup de dés", daß das Gedicht nicht mehr nur ein kleines, für sich allein stehendes Einzelwerk zu sein brauchte, sondern daß es eine große Kontinuität besitzen konnte, gleichzeitig aber auch eine trennbare Kontinuität; ich will damit sagen, eine Kontinuität, aus der sich Einzelstücke herausnehmen lassen, weil sie selbst dann sinnvoll und gültig sind, wenn man sie aus dem fortlaufenden Kontext löst. [Wille und Zufall, 56]

Es mag subjektiv sein, Boulez' zwischen 1957 und 1962 gleichsam als ein work in progress enstandene "Pli selon pli" als das bisher gewichtigste seiner Werke anzusprechen. In der Rezeptionsgeschichte des Mallarméschen Oeuvres ist es neben Pörtners "Alea" ein zweiter erratischer Block. Im endgültigen Titel Mallarmés Livre-Konzeption verpflichtet, der die Buchseiten plis brodes d'arabesques significatives nennt und in "quant au livre" schreibt:

Diese Faltung dunkler Spitze, die das Unendliche festhält, tausendfach verknüpft, jede dem Faden oder dessen verborgener Fortsetzung entlang ihr Geheimnis haltend, legt die auseinanderliegenden Verschlingungen zusammen, in denen eine Pracht schläft, Zauber, Knoten, Blätter, um aufgenommen zu werden und vergegenwärtigt -

Im endgültigen Titel Mallarmés Livre-Konzeption verpflichtet, entsteht das Ganze gleichwohl schrittweise, jeweils in der musikalischen Auseinandersetzung mit einem Mallarméschen Sonett, wobei aber eine genaue Kenntnis des "Coup de dés", wovon noch die Rede sein wird, den Hintergrund bildet.

In der heutigen Form, die dennoch offen ist, umfaßt der Zyklus Gedichte von den Anfängen des Mallarméschen Dichtens bis zu seinem Ende, deren erstes die Geburt ("Don du poème"), deren letztes den Tod ("Tombeau") thematisiert. Daß Boulez für sein musikalisches Großunternehmen Sonette aus dem Werk Mallarmés wählt und nicht den "Coup de dés", auf den dieses Werk, die Livre-Konzeption hinausläuft, mag zunächst befremden. Boulez hat jedoch für seinen Versuch, ein musikalisches, poetisches und formales Äquivalent zu [Mallarmés] Dichtung zu finden , die Wahl sehr strenger Formen damit begründet, daß er

ihnen eine Wucherung der Musik aufpropfen wollte, die von einer ebenso strengen Form ausginge. Das gab mir die Möglichkeit, in die Musik Formen zu übernehmen, an die ich sonst nie gedacht hätte, und deren Ursprung literarische, von Mallarmé verwendete Formen waren. [Wille und Zufall, 108]).

Daß und in welcher Form Boulez seine Absicht einlöst, kann im Einzelnen nicht Gegenstand dieser Vorlesung sein. Doch hat sie sehr wohl deutlich zu machen, daß es sich bei "Pli selon pli", bei den 5 Kompositionen "Don", "Improvisation[en] I-III sur Mallarmé" und "Tombeau" nicht nur um 5 aneinandergereihte Vertonungen von Sonetten handelt, sondern um eine Komposition, die mehr ist, als die Summe ihrer Teile.

Ich habe, betont dies Boulez im Gespräch, ich habe Mallarmé nicht nur gewählt, weil er Sonette schrieb; ich habe ihn auch gewählt, weil seine Dichtung für mich eine sehr genau umrissene Bedeutung besaß" [Wille und Zufall, 108 f.]

Diese Dichtung aber umfaßt neben den Sonetten auch die von Debussy vertonte, von Boulez immer wieder einmal dirigierte Ekloge "L'après-midi d'un faune" ebenso wie das frühe Prosafragment "Igitur" und den davon interpretatorisch nicht zu trennenden "Coup de dés". Und zwischen all dem besteht jenes Wechselspiel, auf das sich Mallarmés Livre-Konzeption gründet. Eine Konzeption, die Boulez erahnte, als er "Igitur" und den "Coup de des" - bezeichnenderweise im Zusammenhang - las. Dieses Wechselspiel auch bei Boulez im Einzelnen heraus- zuarbeiten, wäre Aufgabe einer umfassenden Interpretation von beidem, dem Werk Mallarmés und Boulez' "Pli selon pli". Daß dieses Wechselspiel nicht nur im Einzelnen, sondern zwischen beidem spielt, kann wenigstens angedeutet werden. So hat Michel Butor zum Beispiel darauf hingewiesen, daß die ursprünglich für die Aufführung der "Improvisation I sur Mallarmé" vorgeschriebenen sieben Musiker ihre Entsprechung finden in der letzten Zeile des für das Verständnis von "Igitur" und den "Coup de dés" äußerst wichtigen Sonetts "Ses pursongles [...]" - De scintillations sitôt le septuor, - so wie im Sternbild des Großen Bären, dem Septentrion aussi Nord des "Coup de dés".

Ferner ist Boulez' Vorstellung einer dem Zufall unterworfenen Musik ohne Mallarmés Un Coup de dés jamais n'abolira le hasard, ohne die Rolle des Zufalls bei Mallarmé kaum denkbar. So 'entfalten' die Kompositionen von "Pli selon pli", die, jede einzeln, der Wahl des Interpreten und dem Zufall viel Raum geben, auch ein musikalisches Portrait des Dichters, und sie sind zugleich - worauf Paul Griffiths hinwies - ein Selbstportrait des Komponisten:

Da Boulez jedoch so vollständig von [Mallarmés] Texten Besitz ergreift, anstatt sie einfach nur zu vertonen, stellt das Werk auch Boulez' Selbstportrait dar, und das "Je", womit es beginnt, hat einen zweiten Autor erworben.

[O-Ton aus dem Anfang von "Don du poeme" (Sopran: Je t'apporte l'enfant d'une nuit d'Idumee)].

Wenn Griffiths davon spricht, Boulez habe von Mallarmés Texten Besitz ergriffen, wenn der Komponist seine Arbeit als Versuch bezeichnet, ein musikalisches, poetisches und formales Äquivalent zu [Mallarmés] Dichtung zu finden, sprechen beide von einem künstlerischen Prozeß, den ich Übersetzen nennen möchte, und zwar im doppelten Sinne von Übersetzen und Übersetzen. Wenn Boulez im Gespräch vom Gedicht, das im Zentrum der Musik stehe und gleichzeitig abwesend sei, redet, umschreibt er auch dies.

Die numerische Struktur des Sonetts dient der musikalischen Struktur als Basis, wir haben es also mit einer vollständigen Osmose zu tun, von der eigentlichen Poetik bis zur Entscheidung für die zahlenmäßigen Zusammenhänge des Gedichts. Ich sage Osmose, aber außerdem vollzog sich auch eine vollkommene Umformung, und zwar eine so tiefgreifende, daß ich mich gezwungen sah, ein völlig eigenständiges Werk und eine völlig eigenständige Form zu schaffen. Und darum habe ich ein Wort von Michaux aufgegriffen, als ich sagte, daß hier das Gedicht gleichzeitig im Zentrum der Musik stehe und abwesend sei. [Wille und Zufall, 109].

Es wird sich zeigen, daß auch für Paul Pörtners Hörspieladaption das Problem des Übersetzens zentral ist, allerdings eines Übersetzens, das mit dem, was unter dieser Tätigkeit traditionellerweise verstanden wird, wenig gemeinsam hat. Und das aus gutem Grund. Denn das traditionelle Übersetzen ist im Falle des Mallarméschen Werkes, seiner syntaktischen und semantischen Komplexität und seines Livre-Charakters ebenso kläglich gescheitert wie bei anderen komplexen Werken der Weltliteratur, den "Pensées" zum Beispiel von Blaise Pascal oder François Rabelais' "Gargantua und Pantagruel", dem allenfalls Johann Fischarts "Affenteurlich Naupengeheurlich[e] Geschichtsklitterung" das Wasser der Adaption reichen kann, oder "Finnegans Wake" von James Joyce, dem in immer neu ansetzenden Durchschriften - sogenannten "Writings" - sich John Cage adäquat zu nähern versucht hat.

Es ist leicht, den vorliegenden traditionellen Übersetzungen speziell des "Coup de dés" ihre Fehler vorzuhalten. Vor allem aber haben Gomringer und alle ihm folgenden konkret/visuellen Poeten überlesen, daß Mallarmé in seinem Vorwort ausdrücklich den auch akustischen, den Partiturcharakter seiner Dichtung herausstellt:

Der literarische Vorteil, wenn ich so sagen darf, dieser Distanzschreibung, die ihrem Sinn nach Wortgruppen oder einzelne Wörter trennt, scheint der: dann und wann die Bewegung zu beschleunigen oder zu verlangsamen, sie skandierend, sie umfassend sogar zu einer simultanen Vision der Buchseite, diese als Einheit genommen, wie es anders der Vers ist oder die abgeschlossene Zeile. Der dichterische Einfall ist da und tritt zurück, schnell mit der Beweglichkeit des Geschriebenen, rund um die fragmentarischen Haltestellen eines Hauptsatzes, der schon mit dem Titel eingeführt und fortgesetzt wird. Alles ereignet sich gerafft, als Hypothese, man vermeidet die Erzählung. Anzufügen wäre, daß aus dieser bis zum äußersten vor getriebenen Anwendung des Denkens mit Zurücknahmen, Ausweitungen, Ausbrüchen, oder aus dem Schriftbild für den, der laut lesen will, eine Partitur hervorgeht. Der Unterschied in den Drucktypen zwischen dem Hauptmotiv, einem sekundären und den angegliederten gibt dem mündlichen Vortrag die Verteilung der Gewichte, und die Wurfweite, zur Mitte, nach oben, nach unten auf der Seite zeigt an, ob der Ton steigt oder fällt. Nur gewisse sehr kühne Führungen, Übergriffe u.a., den Kontrapunkt bildend in dieser Wortmelodie, sind in einer Dichtung, die keine Vorgänger hat, im Anfangsstadium geblieben.

Mallarmé hat auch an anderen Stellen die Verbindung zur Musik und zur bildenden Kunst durchaus immer wieder gesucht, wenn er zum Beispiel schreibt, es ginge ihm um die Erfindung einer Sprache, wie sie notwendigerweise hervorgehen muß aus einer sehr neuen Poetik, die ich mit den Worten beschreiben kann: Malen, nicht den Gegenstand, sondern die Wirkung, die er hervorruft.

Oder - jetzt bezogen auf die Musik:

Nicht mehr das Hin und Her des Blickes in ununterbrochener Folge, von einer Linie zur nächsten, um wieder von vorn zu beginnen: ein solches Vorgehen gewährt keinen Genuß ... aber der Entschluß, dessen Blitz jedem zusteht, verknüpft die Bruchstücke des Erkennens ... Die eine Idee hervorbringende Poesie ist die höchste Musik.

Wieder an anderer Stelle verbindet er La Musique et les Lettres oder schreibt in einem Brief an Coppée:

Die Wörter - die schon genügend Eigenwert haben, um nicht mehr von Außen einen Anstoß erhalten zu müssen - reflektieren sich, die einen an den anderen, bis sie nicht mehr ihre eigene Farbe zu besitzen scheinen, sondern nur noch die Übergänge auf einer Tonleiter sind.

Man täte gut daran, diese und ähnliche Notate Mallarmés nicht ausschließlich als Metaphern zu lesen, sondern beim Wort zu nehmen. Dann würden sie nämlich bedeuten, daß die Konzeption des offenen Buches die Entgrenzung der Literatur in die anderen Künste, die bildende Kunst und die Musik, mit einschließt. Was nicht nur die Versuche von Boulez, Pörtner und meine eigenen verständlicher machen würde als, wenn man so will, Entgrenzungen in umgekehrter Richtung. Was aber auch die Frage aufwirft, ob sich diesem Versuch einer eher ästhetischen Entgrenzung möglicherweise ein Versuch auch inhaltlicher Entgrenzung zuordnen läßt. Um diese Frage zu beantworten, ist es notwendig, noch einmal im "Coup de dés" zu lesen, dessen 'letzte' Zeile lautet:

Toute Pensée émet un Coup de Dés,

in der Übersetzung, aber ohne das akustisch musikalische Raffinnement dieser Zeile:

Jeder Gedanke ist ein Würfelwurf bzw. Allen Denkens Entwurf ist ein Würfelwurf.

Wer so übersetzt, übersetzt auf den Punkt hin. Dabei ist, im Sinne des offenen Buches, dieser Punkt hier gar nicht zu setzen, muß der Text, die Partitur offen bleiben. Zu fragen ist: wohin? Die bisherigen Interpretationen, aber auch Pörtners Adaption gehen davon aus, daß Mallarmés Text finalgerichtet ist, und geben so dem jamais, dem niemals und dem rien, dem nichts ein entsprechendes Gewicht. Sie überlesen aber, daß dem rien des "Coup de dés" nicht nur im "Igitur"-Fragment als seiner Vorstufe noch ein zweites Nichts, ein Neant an die Seite tritt. Dieses könnte verweisen auf das große Gedankenwerk eines Autors, das mir auch in der 'letzten' Zeile des "Coup de dés" angespielt scheint: auf Pascals "Pensées".

Auffällig finden sich nämlich in diesem discours Aphorismen, die auch zum Verständnis Mallarmés von einiger Bedeutung sein könnten. Einige von ihnen seien hier in Übersetzung zitiert:

Der Zufall schenkt die Gedanken, der Zufall löscht sie aus: keinerlei Mittel, um sie zu bewahren, noch um sie zu finden. Man sage nicht, ich hätte etwas Neues gesagt: die Anordnung des Stoffes ist neu. Jeder spielt, wenn man Ball spielt, mit dem selben Ball, aber einer setzt ihn besser.

Ich werde ebenso zufrieden sein, wenn man mir sagt, ich hätte alte Worte benutzt. Als ob die gleichen Gedanken in verschiedener Anordnung nicht einen anderen Satzkörper bildeten, wie die selben Wörter durch verschiedene Anordnung andere Gedanken.

Verschiedene Folge der Wörter gibt verschiedenen Inhalt, und verschiedene Folge der Inhalte gibt verschiedene Wirkung. Die Sprachen sind Chiffren, wo nicht Buchstaben Buchstaben entsprechen, wohl aber Wörter Wörtern, so daß eine unbekannte Sprache entzifferbar ist.

Es ist relativ leicht, diesem Entsprechendes, auch Modifiziertes von Mallarmé an die Seite zu stellen. Doch ist das für gegenwärtigen Zusammenhang nicht so entscheidend wie die Tatsache, daß sich bereits bei Pascal neant und rien, sogar in enger Verbindung, vorfinden.

Mit diesem Neant/Nichts ist Mallarmé aber mutmaßlich nicht nur bei Pascal konfrontiert gewesen. Es hat ihn nachweislich noch in eine andere, wenn auch durchaus vergleichbare Richtung geführt. So schreibt er bereits im März oder April 1866 aus Tournon an Cazalis:

Unglücklicherweise bin ich, eindringend in den Vers bis zu diesem Punkt, zwei Abgründen begegnet, die mich zur Verzweiflung bringen. Der eine ist das Nichts - im Original steht hier neant - zu dem ich gelangt bin, ohne den Buddhismus zu kennen, und ich bin doch zu verlassen, um selbst an meine Dichtung glauben zu können und die Arbeit wieder aufzunehmen, welche aufzugeben mich dieser zermalmende Gedanke gezwungen hat.

Mallarmé hat seine Arbeit wieder aufgenommen und bis zum "Coup de dés" immer radikaler durchgeführt. Das neant im "Igitur"-Fragment, das jamais und rien des "Coup de dés" deuten an, wie sehr das Nichts in seinen Bedeutungsschattierungen das Werk und seine Entwicklung begleitet hat, so daß sich die These wagen läßt, daß sich dem Versuch der ästhetischen Entgrenzung inhaltlich der Versuch einer Entgrenzung ins "Nichts" zuordnen läßt, in dem sich Mallarmés Werk dann in letzter Konsequenz aufheben würde, würde es diese Grenze überschreiten.

Rückblickend hätte ich diese These gerne mit dem 1984 viel zu früh verstorbenen Paul Pörtner diskutiert, der in seiner "Coup de dés"-Adaption zu einem anderen, eher bitteren Ergebnis kommt. Und ich hätte diese Diskussion mit ihm gerne geführt in Ergänzung zu einem langen, bis heute zur Gänze ungesendeten Gespräch, daß wir anläßlich der Sendung "Von der Klangdichtung zum Schallspiel", 1981, im Westdeutschen Rundfunk führten. Es war dies ein Gespräch, in dem es - ausgehend von Pörtners akustischem Spiel "Alea" und seiner Vorlage, Mallarmés "Un Coup de dés" - auch um das Übersetzen von Literatur ging, um die Frage, wie denn, wenn sich ein Werk nicht Wort für Wort aus dem Original ins Deutsche übertragen lasse, eine adäquate Adaption aussehen müsse.

Eine Antwort Pörtners auf diese Frage ist der Entstehungsprozeß seines akustischen Spiels, der sich in mehreren Schritten vollzog. Zeitlich von ersten Anfängen Mitte der 60er Jahre, die sich die damals neue technische Errungenschaft der Stereophonie nutzbar machten, über eine erste Fassung 1969/1970, zu der sich ein Arbeitsbericht Paul Pörtners als Tondokument erhalten hat, zu einer WDR-Version von 1971, aus der ich einleitend zitierte und die ich abschließend noch einmal anspielen werde.

Zu einem leichteren Verständnis seien einige Bemerkungen vorausgeschickt. Zunächst, daß sich Paul Pörtner nicht ausschließlich auf seine Vorlage, den "Coup de dés" konzentriert hat. Daß er vielmehr deren Vorstufen mit berücksichtigt hat, wenn er seine Sprecherpositionen als Alter Meister, als Igitur, als Sirene oder als Epistula ausweist. Denn dies setzt zum Beispiel den Igitur des frühen Fragments gleichen Titels mit dem Maitre des "Coup de dés" in die werkgenetisch richtige Beziehung. Pörtner geht zweitens über die Vorlage hinaus, indem er sich bei ihrer ersten 'Übersetzung', bei ihrer ersten Lektüre als Partitur, an Mallarmes "Livre"-Projekt orientiert, das - so Pörtner - noch heute die Ansätze der experimentellen Literatur übertreffe.

In seiner weiteren Bearbeitung des in diesem ersten Schritt gewonnenen Textmaterials, daß er in Laute und Buchstaben auflöst und schließlich noch elektronisch analysiert und synthetisiert, dekomponiert und wieder komponiert, weiß er sich dennoch Mallarmés "Le Livre" verpflichtet, wobei er sich - wie schon Boulez - auf Mallarmés Begriff vom Operateur bezieht. Anders allerdings als bei Boulez, der den Dirigenten als Operateur verstand, ist für Pörtner der Leser des Textes der Operateur in mehrfachem Sinne.

Mallarmé authorisiert", sagt es ein Arbeitsbericht von 1970, Mallarmé authorisiert den Leser zu einem aktiven Verändern des Textangebotes; er vertraut der Lektüre den Vollzug des im Werk enthaltenen Vieldeutigen, Vielsinnigen an; er sieht das Opus erst verwirklicht in Operationen, die wörtlich verstanden: ein Ausführen und Aufführen des Opus sein sollen, aber auch - im Sinne des chirurgischen Eingriffs - ein Operieren, ein Verändern des Werkes bedeuten können.

Ich nahm diese Aufforderung Mallarmés wahr: stellte in mehreren Umsetzungsprozessen meine eigene Version her, die sich im Schallspiel "Alea" frei entfaltet, aber immer den Ausgang von Mallarmés Gedicht erkennen läßt: der Umkreis der Wörter, der Kombinationen, der Konstellationen wurde den Vorgaben Mallarmés entnommen.

Selbst dort, wo Pörtner bei den folgenden Operationen bis zur Dislokation von Laut und Wort fortschreitet, Sprache partienweise von der Bedeutung her nicht mehr verständlich ist, bleibt sie dennoch Sprache, sagt sie dasselbe wie der ungebrochene Aussagegestus.

Die unvermittelten Wechsel zwischen beiden Aspekten der Sprache folgen dem Ausspruch Mallarmés, daß "die Musik und die Literatur die beiden wechselnden Seiten des einen, des einzigen Phänomens" sind, und er bezeichnete die eine Seite "die mit Gewißheit funkelnde", die andere "die dem Dunklen zugekehrte". Dieser berühmte Satz Mallarmés aus der Oxfordvorlesung hat Musiker wie Pierre Boulez zu Improvisationen über Mallarmé angeregt. Ich versuche, für meinen Teil, von der Literatur her zu denken, von der Bedeutung her zu planen, wage aber gewisse akustische Abstraktionen, die aus dem Text gewonnen werden, die gewohnte Sprache verfremden, dehnen, spreizen, um sie aufzuschließen, um ihre rhythmisch-lautlichen Spannungsverhältnisse hörbar zu machen: die immanente Musikalität. So zeichnen z.B. Sinustonkombinationen die Sprachverläufe nach: Punkte umschwirren, umtanzen die Lautform des Wortes, stanzen es aus, machen es bewußt.

Pörtner geht also - und das ist bezogen auf das Ergebnis wichtig und festzuhalten - Pörtner geht also bei seinem Versuch einer akustischen Realisation nicht nur vom Text, vom Geflecht seiner Bedeutungen aus, sondern er bleibt beidem selbst in akustischen Abstraktionen verpflichtet noch dort, wo er die im Textbild dominierende rhythmische Figur der Woge zunächst im elektronischen Studio synthetisch herstellt, um sie danach mit Sprache zu verbinden, um diese gleichsam zerstäuben zu lassen. Aber auch das natürliche Wellengeräusch ist wie seine Modulation - so gesehen - noch vom Textbild her abgesichert.

Von dem im Textbild angegebenen rhythmischen Figuren dominiert die Form der Woge. Wir stellten sie im elektronischen Studio zuerst synthetisch her: ein Wogen- Signal, ein Wogen- Emblem, dessen Form sich auch grafisch auf der Mattscheibe des variablen Funktionsgenerators präzisieren ließ: ein regulärer Kurvenverlauf, der von winzigen irregulären Punkten übersprüht wird. Dieses Wogenschema dient zur Steuerung der Frequenzen, prägt also die Dynamik des gesprochenen Textes: ein kontinuierliches An- und Abschwellen wird von kurzen abrupten Impulsen übertroffen, die immer nur ganz knappe Laute mitreißen: als Zerstäubung des Textes wirken.

Zum Vergleich eine Modulation mit einem natürlichen Wellengeräusch, eine echte Modulation von Sprache und Geräusch, wie sie nur elektronisch möglich ist, zur Zeit eine der attraktivsten Möglichkeiten dieser Umformung. Die Hüllkurve des Wellengeräusches wird der Sprache aufmoduliert, so daß eine synthetische Einheit von Sprache und Geräusch entsteht: die Woge spricht - die Sprache wogt.

In diesen Beispielen hat Pörtner fraglos, von der Sprache der Vorlage und ihren Bedeutungen ausgehend, die äußerste Grenze zum Außersprachlichen erreicht, ohne dennoch die Literatur eigentlich zu verlassen. Eine Feststellung, die auch dort gilt, wo Pörtner mit dem Schrei bis an die Grenze zum Außersprachlichen vorstößt, wenn er in der vierten Phase seines Schallspiels Schreie des englischen Stimmartisten Roy Hardts zur Dynamisierung und Extensivierung des Stimmlautes benutzt.

Und selbst noch dieses ließe sich von Mallarmé her, von seinem Versuch ausgehend, die Literatur zu entgrenzen, verstehen und rechtfertigen. Indirekt geschieht dies auch bei Pörtner, der im Anschluß daran allerdings den "Coup de des" nicht mehr offen hält, sondern den Satz Mallarmés, nie werde das Denken den Zufall besiegen, als eine Sentenz äußerster Verzweiflung liest, als Wahrsage einer Katastrophe. [Gespräch Döhl/Pörtner].

Das Schallspiel "Alea" versucht an die Grenze des akustisch Wahrnehmbaren zu gehen, eine Grenze, die Mallarmé sehr weit gezogen hat. Es ist die Grenze, die vom Normalen her überschritten wird zum Wahnsinn hin oder zum Tod hin, genauer: zum Todeskampf, in dem das Ich sich aufbäumt gegen die Vernichtung.

Der Zufall siegt über das Denken: diese Lesung Mallarmés mache ich auf eigene Gefahr. Aber ich sehe gerade diesen Aspekt des katastrophalen Zufalls - katastrophal im physischen wie im metaphysischen Sinn - bei Mallarmé zum ersten Mal aufscheinen. Es handelt - wenn es überhaupt Handlung geben kann - dieses Gedicht von der Destruktion eines Axioms, das wie ein Felsen die Fluktuation, das Anbranden des Elementaren überragt, aber nicht standzuhalten vermag, zerstäubt wird, zerstört wie ein Spuk.

[Zu Biographie und Werk Paul Pörtners vgl.: Es gibt kein Firmament mehr.
In memoriam Paul Pörtner .]





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