Literatur im Internet
Theorie und Praxis einer kooperativen Ästhetik
Abstract einer Dissertation über digitale Ästhetik*

von Christiane Heibach

 

Elektronische Literatur nimmt seit einigen Jahren einen immer größeren Raum in der literaturwissenschaftlichen Reflexion, vor allem im angelsächsischen Raum, ein. Dabei herrscht - unabhängig von theoretischen und ideologischen Differenzen - seltene Einmütigkeit darüber, daß der Computer für die Produktionsbedingungen von Literatur eine ebenso große Zäsur bedeutet wie einstmals der Buchdruck. Der Gutenberg-Galaxis scheint die Turing-Galaxis zu folgen. Da die Verarbeitung und Speicherung von Daten und - im Falle elektronischer Literatur - deren Produktion und Präsentation allein durch programmbasierte Steuerung elektronischer Impulse erfolgt, werden Immaterialität und Prozeduralität zu inhärenten Eigenschaften des Textes. Daraus folgt eine grundlegende Veränderung im Umgang mit und in der Wahrnehmung von Literatur und Schrift. Durch die Vernetzung erhält der Computer mediale Qualitäten, die auf einem polylateralen Austausch von Daten beruhen, der die Grenzen zwischen Produzent und Rezipient durch unzensierte Veröffentlichungsmöglichkeiten verwischt.

Im Zentrum der Dissertation steht dabei die Frage nach neuen ästhetischen Kriterien, mit denen sich durch vernetzte Computernutzung entstandene literarische Formen erfassen und beschreiben lassen. Da Ästhetik sich immer im Spannungsfeld theoretischer Konzepte und experimenteller Praxis befindet, müssen beide Reflexionsformen hier einer Analyse unterzogen werden. Verbunden werden sie durch die Frage, inwiefern die Theorie die Praxis antizipiert bzw. ihr gerecht wird. So gliedert sich das Dissertationsprojekt in zwei große Teile: Der erste Abschnitt beleuchtet aktuelle philosophische Medientheorien im Hinblick auf ihren Begriff von medialer Ästhetik, der zweite befaßt sich mit einer Untersuchung der Praxis internetbasierter literarischer Projekte und ihrer Grundlagen.

Dabei kristallisiert sich in bezug auf die Medientheorien ein deutlicher Paradigmenwechsel von einer durch abgrenzende, statische Kategorien gekennzeichneten "elitären" Ästhetik zu einer prozeduralen, auf vernetzter Kommunikation beruhenden kollektiven Kreativität heraus. Diese liegt in positiver Form den Gesellschaftsutopien Marshall McLuhans und Vilém Flussers zugrunde und wird als apokalyptische Vision auch bei deren Antipoden Jean Baudrillard und Paul Virilio entwickelt. Diese sehen in der Flut simulierter, in Echtzeit übertragener Bilder den Untergang der Imagination und bewußten, aus der Abgrenzung zum Anderen resultierenden Gestaltung. Der aus der Kybernetik hervorgegangene Konstruktivismus als dritte Richtung konzentriert sich auf eine systemische Struktur, die sich festen ästhetischen Kategorien zugunsten einer Analyse von Produktions-, Rezeptions- und Distributionsprozessen verweigert. Allen Theorien liegt schließlich ein Grundverständnis von Ästhetik als "Aisthesis" - als primär "wahrnehmungs-technisches" Phänomen - zugrunde, dem der Computer als medienakkumulierendes und Raum- und Zeitdifferenzen ignorierendes Medium neue Qualitäten verleiht.

Der Schwerpunkt des zweiten Teils der Analyse liegt dann auf Frage der Praxis neuer ästhetischer Formen im durch die Computervernetzung entstandenen Raum. Literatur und Kunst, die den Computer als Produktionsgrundlage und das Internet als Aktionsplattform wählen, entwickeln neue Darstellungsformen und müssen daher mit anderen Kategorien als denen der traditionellen Ästhetik beschrieben werden. Diese gilt es nun hier auf der Basis einer Phänomenologie von literarischen Projekten im Internet zu entwickeln. Als konstitutiv für Internet-Literatur - im Gegensatz zu digitaler "Binnenliteratur" - wird das Zusammenspiel dreier das Medium konstituierenden Ebenen angesehen, der technischen, der ästhetischen Darstellungsebene und der Vernetzungsebene der sozialen Interaktion. Deren Zusammenspiel untereinander ist charakterisiert durch eine Bewegung, die ich "hyperlektische Oszillation" genannt habe.

Die Merkmale digitaler Kunst und Literatur - die Immaterialität der elektronischen Impulse und die Prozeduralität der Computerprogramme, die sie hervorbringen - bewirken eine Veränderbarkeit und Fragilität des Erscheinens, die sich grundlegend von nicht-digitalen Phänomenen unterscheiden. Die Oszillation zwischen den drei Ebenen des Internets bringt ästhetische Formen hervor, die nur bei einer Aktualisierung durch den Benutzer, der die diese konstituierenden Programme auslöst, entstehen. Die "hyperlektische Oszillation" ist somit eine niemals endende, immer wieder stattfindende Bewegung, die zur wahrnehmbaren Manifestation von Internet-Kunst und -Literatur führt.

Beide Begriffe, Kunst und Literatur, verschwimmen zudem aufgrund der multimedialen Potentiale des Computers, die Grenzen werden fließend. Die semiotischen Systeme gehen eine Interaktion miteinander ein, die ebenfalls zu neuen, hypermedialen Kunstformen führt, die nicht mehr nur auf Text basieren. Es entsteht aber eine neue Form von Text: der der Programmiersprachen und der HTML-Seitenbeschreibungssprache. "Literatur" wird somit zu einem Begriff, der eine eminent technische Basis erhält und mehrere Textschichten umfaßt.

Daher werden bei der Untersuchung der Projekte nicht nur meist hypertextbasierte, explizit als "Literatur" etikettierte Werke untersucht, sondern auch Software miteinbezogen, wie die "alternativen Browser" (der "Web Stalker" von I/O/D, der "Shredder" von Mark Napier und der Netomat von Maciej Wisnewski) und "Dekonstruktionsperformances" digitaler Symbolik wie die Projekte von Jodi oder der HTML-zerstörende "Discoder" von exonemo. Bei der Untersuchung kristallisieren sich zwei Hauptformen von Internet-Kunst und -Literatur heraus: Die eine legt ihren Schwerpunkt auf die (Im)Materialität der digitalen Impulse sowie die Volatilität und Zusammenführbarkeit der verschiedenen semiotischen Systeme, die andere konzentriert sich auf das Spiel mit der textuellen Vernetzung - sei es durch Intertextualität oder durch kommunikative Formen von Literatur.

Zwei "Sphären" also bilden sich heraus, die aus unterschiedlichen Schwerpunktoszillationen hervorgehen. Die "Semiosphäre" (in Anlehnung an Jurij Lotman) konstituiert sich in erster Linie aus der Oszillation zwischen technischer und ästhetischer Ebene (so die oben angeführten Software-Projekte, aber auch der Einsatz von Hypertext für literarische Zwecke und hypermedial konzipierte Werke wie David Blairs "WaxWeb", Dirk Günthers und Frank Klötgens "Die Aaleskorte der Ölig", Mark Amerikas "PHON:E:ME" und Jacques Servins Projekt "BEAST" fallen darunter). Die soziale Ebene kommt durch den rezipierenden Benutzer ins Spiel, der seine Wahrnehmungsgewohnheiten und Verhaltensformen auf die Probe gestellt sieht, wenn - wie bei den "alternativen" Browsern - die gewohnten Anzeigeformen plötzlich verändert werden oder - wie bei Jodi - der Computer sich verselbständigt und - siehe "BEAST" - die komplexe Interaktion der semiotischen Systeme zunächst einen kognitiven "Overkill" zu verursachen scheint.

Die zweite Sphäre habe ich die "Vernetzungssphäre" getauft. Sie geht in erster Linie aus der Oszillation zwischen technischer und sozialer Ebene hervor und nutzt die ästhetische Ebene eher als Manifestationsplattform, nicht als Experimentierfeld für neue Wahrnehmungsmodi. Sie umfaßt intertextuelle Projekte wie "Holo-X" von Jay Dillemuth u.a., das andere "real existierende" Web-Seiten miteinbezieht, aber auch Projekte, die mit dem Verschwimmen von Realität und Fiktion spielen - etwas, das aufgrund des in die virtuelle Lebenswelt integrierten Kunstraumes nur in der Vernetzung des Internets möglich ist. Das Genkaufhaus "Tyrell.Hungary" von East Edge ist ein solches Projekt, das dem Besucher suggeriert, er könne sich hier durch Gen- und Mem-Manipulation eine neue Existenz erkaufen, den perfekten Haussklaven oder die ideale Käuferschicht für sein bisher erfolgloses Produkt erschaffen lassen. Ebenso gehören eine ganze Anzahl politkünstlerischer Projekte in diesen Bereich, wie die Aktionen von RTMARK, des Electronic Disturbance Theaters oder des Critical Art Ensembles, die Software und die globale Vernetzung als Mittel politischen Protests einsetzen.

Zur Vernetzungssphäre zählt auch die große Anzahl kommunikativer Literaturprojekte, wie Mitschreibeprojekte, Projekt-Kooperationen, aber auch virtuelle Welten, wie Olivia Adlers "Café Nirvana" oder "Conversation with Angels" von meetfactory, in denen die ephemere Kommunikation zwischen Menschen zum Kunstwerk wird. Ebenso gehören die Künstlerplattformen wie "äda'web", "The Thing", "Rhizome" oder die Mailingliste "Netzliteratur" zur Vernetzungssphäre, die Kommunikations- und Produktionsforen für ort- und zeitunabhängige transnationale künstlerische Produktion sind. Hier wird Kunst und Literatur zur Kommunikation - meist um den Preis der Aufgabe printliterarischer Qualitätskriterien und des Ewigkeitsanspruchs. Besonders bei den Mitschreibeprojekten und den künstlerischen virtuellen Welten läßt sich feststellen, daß der Produktionsprozeß das eindeutige Primat vor dem Ergebnis hat - das fertige Werk (so es überhaupt abgestrebt wird) ist nicht mehr interessant. Diese Projekte leben nur in ihrem Werden, nicht in ihrem Sein und sind daher auch entsprechend ephemer angelegt. Kommen sie zum Stillstand, so verlieren sie ihre Funktion als kollektive ästhetische Produktion.

Der derzeitige "state of the art" von Internet-Kunst und -Literatur bestätigt somit den Paradigmenwechsel, der das Ergebnis der Analyse der Medientheorien war. Prozeß und Aisthesis ersetzen Werk und die "Ästhetik" der Abgeschlossenheit und kohärenten Schönheit, die sich von der Lebenswelt explizit abtrennt. Auch die Konzept- und Performancekunst konnten diese Trennung letztlich nicht durchbrechen. Im Internet, der Sphäre der Vernetzung, besteht diese Abtrennung nicht mehr - Kunst und Literatur werden in der Kommunikation verlebensweltlicht (im Gegensatz zur Diagnose neuerer ästhetischer Theorien, die eine Ästhetisierung der Lebenswelt feststellen). Dennoch ergeben sich auch deutliche Unterschiede zwischen Theorie und Praxis, die meist auf der unzureichenden Beschäftigung der Theorie mit der Praxis beruhen oder der Gebundenheit des Medienbegriffs an das unidirektionale Sender-Kanal-Empfänger geschuldet sind. Die epistemologischen Konsequenzen jedoch decken sich: Die Wahrnehmungs- und Existenzkategorien müssen angesichts des weltenerschaffenden Potentials, der Prozeduralität und der Kommunikativität des Internets neu überdacht und modifiziert werden.

*Die Dissertation [pdf-file 5 MB] wurde fertiggestellt im Dezember 1999 und eingereicht an der neuphilologischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg.