"Das Universum, das andere die Bibliothek
nennen, setzt sich aus einer undefinierten, womöglich unendlichen
Zahl ineinander verschachtelter Bildschirme zusammen [...] eingefaßt
durch Markierungen am Rande dieser Blätter aus vergessenen
Schätzen geschriebener, gezeichneter, imaginierter Buch-Utopien.
Die Anordnung der auf dem Bildschirm erscheinenden Bücher ist
niemals dieselbe, ebensowenig die Art und Weise, in der sich der
Benutzer durch die verschiedenen Gebiete der Bibliothek hindurchbewegt.
[...] Das Buch ist bisher das radikalste Interface für den
Entwurf virtueller Welten." (Idensen/Krohn 1990:132)
Das Aufkommen neuer Medien wird von pompösen Tumulten und vielfältigen
Totengesängen auf die 'alten' Medien begleitet. Aber unterhalb
der leeren perfekt designten Oberflächen des neuzeitlichen Informationsdesigns,
der "Softmoderne", des Infotainment blitzen die überwunden geglaubten
Schriftzeichen verschämt wieder auf - jetzt als Wörter,
die ihre alte Unschuld verloren haben und als Hotspots, keywords,
Hypertext
[1]- Absprungstelle den Leser nicht mehr
in den Text hineinsaugen, sondern ihn vielmehr abstoßen und
in das weite Feld digitaler Kommunikationsstrukturen hinausschleudern.
Leser und Schreiber sind jetzt gleichermaßen mit denselben Maschinen
und Tools angeschlossen, schreiben und lesen gleichzeitig an einer
über die ganze Welt verteilten und zerstückelten Textur:
Copy/Paste ... Send/Recieve ...
"Das Computernetz befreit den Autor von seinem Verleger.
Ungehindert [...] kann ein schreiblustiger Autor Buch nach Buch
direkt ins Netz werfen. [...] Die Sätze wollen nicht länger
eine Verbindung mit Vorgängern und Nachfolgern eingehen. Nach
jedem Satz kann im Prinzip jeder andere folgen [...] Der real existierende
Cyberspace ist ein Text-based Environment [...] Der flüchtige
Computext ist die ironische Rückkehr der Schrift, nachdem das
Wort im Zusammenhang der Bildkultur für tot erklärt worden
war [...] Virtuelles Schreiben ist die Antwort der Schrift auf die
Designermedien, weil es keine Form sucht, um sich zu materialisieren
[...] sondern um sich stattdessen im elektronischen Universum einen
neuen Raum zu schaffen, um überallhin gelangen zu können."
(Agentur Bilwet 1995:208-211)
Online-Texte glänzen weniger durch stilistische und rhetorische
Figuren oder den Gebrauch metaphorischer Formulierungen, sondern eher
durch kontextbezogene Aktivitäten, durch Hin- und Herschalten
zwischen verschiedenen Ebenen, Querverbindungen, Schnelligkeit des
Austausches - sie thematisieren den Raum zwischen verschiedenen Text-
Fragmenten - inszenieren und bearbeiten intertextuelle Strukturen.
Intertextualität
Jeder Text schreibt sich ein in ein intertextuelles Ensemble künstlerischer
/ kultureller / formaler / kanonischer / biographischer Konstellationen.
Jedes Wort produziert Bedeutungen im Kontext der umgebenden sprachlichen
Einheiten - alles Geschriebene ist 'Zitat': Entwendung gelesener Schriften.
Neu ist allein die konkrete Zusammenschaltung sämtlicher Lese-
und Schreibvorgänge im Netz - auf einer einzigen Oberfläche.
Die Intertextualität
[2] der Druckkultur ist
eine virtuelle, in literarischen Texten explizit hergestellte, produzierte.
Die Intertextualität im Netz ist konkret, flach, pragmatisch,
real(istisch), d.h. die Dokumente/Fragmente 'treffen' tatsächlich
aufeinander - ein link
[3] führt tatsächlich
zu einer (oder mehreren) Referenzstelle(n) im selben Text (vgl. die
Fußnoten in diesem Text) oder in anderen Texten. Die Poetik
eines link liegt keineswegs in der bloßen Anspielung, in einer
metaphorischen oder impliziten Bezugnahme, sondern vollzieht sich
in einem wirklichen Sprung, einer tatsächlichen Koppelung - eine
Poetik des Transports
[4]. (Was nichts über
die 'Qualität' oder Literarizität aussagt - ausgedruckt
sind Netzwerktexte zumeist langweilig und 'nicht lesbar'.)
Lesen-Schreiben
Der Umgang mit Netzwerktexten ist zwar strukturähnlich zu literarischen
Produktions- und Rezeptionsformen - aber im Netz geschieht das Lesen
und Schreiben gleichzeitig auf einer Oberfläche, es gibt außerdem
keine Hierarchisierung zwischen Primär- und Sekundärtexten.
Die Prozesse der Strukturierung, Überarbeitung, der Einbindung
in Kontexte die beim konventionellen Einzel-Autoren im Kopf (oder
am Rand des Manuskripts, zwischen den Zeilen des Probeausdrucks) vor
sich gehen, ereignen sich jetzt bereits im öffentlichen Raum:
verteiltes kollaboratives Entwerfen und Entwickeln - Prozessieren
von Text im wahrsten Sinne des Wortes.
Im Gebrauch digitaler Informationsnetzwerke bricht der für die
abendländische Kultur konstitutive wesentliche Unterschied zwischen
Schreiben und Lesen, Senden und Empfangen, Bezeichnen (Codieren),
Interpretieren (Decodieren) zusammen: Produktion, Verbreitung, Interpretation,
Kommentierung, Retrieval von Informationen spielen sich in einem hypermedialen
Netzwerk offener Verweis-, Navigations- und Strukturierungsoperationen
ab. Die Philosophen und Medientheoretiker haben die vernetzte Welt
der Medien nur verschieden interpretiert. Jetzt kommt es darauf an,
die Schaltung der Medien als interdisziplinäre Kulturtechniken
zu entwenden:
Neue Paradigmen für Schreiben und Lesen in hypermedialen Environments
bilden sich erst langsam heraus: Navigieren, Interagieren, Bild-Schirm-Denken,
Chatten ...
Home-Page
Das Abenteuer des virtuellen Schreibens und Lesens kann im Prinzip
überall anfangen. Die leere Seite gibt es nicht mehr. Der Bildschirm
ist immer schon bevölkert mit Zeichen, Menus, Icons, Platzhaltern,
Demotexten, Beispiel-Layouts, Hilfe-Buttons ... Das Lesen und Schreiben
im Netz
[5] hinterläßt endlose history-Listen
(in denen alle bereits besuchten Orte, Seiten, Worte genaustens verzeichnet
sind), hotlists (Lesezeichen
[6], besonders markierte Stellen) und temporär auf der eigenen
Festplatte niedergelegte Text-Fragmente, die dort einer Weiterverarbeitung
harren.
Aber das A und O in diesem Dokuversum
[7] untereinander vernetzter Texte sind die Home-Pages: Die Home-Page
ist auf der Seite des einzelnen Users eine Erweiterung der Desktop-Oberfläche
[8], die die Absprungorte zu verschiedenen Netzwerk-Projekten verzeichnet.
Im Netz selbst stellen sie das Aushängeschild der jeweiligen
Projekte dar, die eine Übersicht der hier zu lokalisierenden
Dokumente und Projekte ins Auge springen lassen. Home-Pages fordern
entweder zum Eintreten auf oder veranlassen den umherschweifenden
[9] Leser zum Weiterreisen.
Als ästhetisches Stilmittel finden sich solche Ausgangs- und
Knotenpunkte künstlerischer Prozesse in Werken und Genres, die
im weitesten Sinne einer Poetik des offenen Kunstwerkes
[10]
zuzurechnen sind.
Als strukturelle Modelle - interfaces - für solche Konstellationen
funktionieren bevorzugt räumliche Formationen, die asynchrone
Vernetzungen verschiedener Materialien, Medien und Handlungsprozesse
zulassen: Landkarten, wie etwa der (imaginierte) Plan einer Stadt
[11] oder eines Hauses in der klassischen Gedächtniskunst
(als kulturelle Speicherplätze), die sich in vielfältiger
Weise auch in der Literatur wiederfinden: etwa bei James Joyce
[12],
der den ganz normalen Tag des 16. Juni 1904 auf den Stadtplan von
Dublin projiziert, oder der Querschnitt durch ein Pariser Wohnhaus
[13] , das als Home- Page für einen Roman dient,
in dem die Technik des mise en abyme - verbunden mit vielfältigen
Katalogisierungen und Indexlisten - topographisches Lesen ermöglichen
oder - um noch mehr ins Detail zu gehen - (wieder anschließend
an den Ursprungsmythos der Art of Memory) ein Tisch, auf dem sich
verschiedene Dinge ausbreiten, ein Desktop als Ausgangspunkt für
eine künstlerische Topographie der Fallenbilder
[14]:
Auf dem Tisch befinden sich (am 17.Oktober 1961 um 15 Uhr 45) 80 Gegenstände,
größtenteils Geschirr, Essen (I Weißbrotscheibe),
Trinken und Essensreste (I a Krümel, 4 a Bruchstücke von
Eierschalen), Schachteln, Schreib- und Malutensilien. Eine Gebrauchsanweisung
[15] führt in die Kartographie dieser Text-Netzwerke
ein.
Verschiedene Anhänge
[16], ein "Nachwort zum
Vorwort", sowie ein biographischer und ein Sachindex lassen parallel
zum Einstieg über die Planzeichnung noch weitere Zugriffsmöglichkeiten
auf den vielstimmigen Text zu.
Was machen eigentlich die zwanzig bis dreißig Millionen Menschen,
die über zwei bis drei Millionen Computer weltweit an das Internet
angeschlossen sind oder die 'unzähligen' User, die über
alternative, teils lokale Netze (Fidonet, Z- Netz u.a.) an Mailboxen
[17] angeschlossen sind? Das, was sie immer am Computer
tun:
- - Sie lesen und schreiben.
- - Sie senden und empfangen.
- - Sie spielen Theater (innere Bühne und Desktop-Interaktion).
- - Sie suchen ...
Die Kulturtechniken des Schreibens und Lesens spielen sich nicht erst
seit dem Aufkommen des Computers in sozialen, kulturellen und medialen
Netzwerken
[18] ab.
Enzyklopädie: Baum des Wissens
Als Denis Diderot und Jean Le Rond d'Alembert am Vorabend der französischen
Revolution mit dem Projekt Enzyklopädie ein universelles Wörterbuch
der schönen und mechanischen Künste zusammentragen, ist
dieses Unternehmen nur als ein kooperatives Schreibprojekt unterschiedlichster
Experten zu bewerkstelligen. Die Vernetzung der einzelnen - alphabetisch
geordneten Wissensbausteine - geschieht über die Darstellung
eines Wissensbaumes
[19]. Auf dieser 'Weltkarte
des Wissens' können die verschiedenen Wissensgebiete überblickt
werden, so daß Zusammenhänge, Verzweigungen, Hierarchien
der einzelnen Wissenspartikel deutlich werden. Im Gegensatz zum linearen
Lesen arbeitet man sich durch die Enzyklopädie mittels sachbezogener,
struktureller und sprachlicher Verweise.
[20] Der
Leser wird somit zum aktiven Bestandteil der Wissensorganisation.
Er kann selbst - unterstützt durch Karte und alphabetische Register
- eigene Wissenspfade
[21] abschreiten.
Die Enzyklopädie projizierte den klassischen Baum des Wissens
auf eine Landkarte, um Verbindungslinien und Knotenpunkte zwischen
den unterschiedlichen Wissenschaften aufzuzeigen. Auf den Oberflächen
informationsverarbeitender Environments werden diese Konzepte in Verfahrensweisen
zum Verknüpfen und Prozessieren von Ideenobjekten weiterentwickelt.
Experimentelle literarische Verfahren wie cut-up, intertextuelle Verknüpfungen,
Verschachtelungen, Labyrinthstrukturen dringen als diskursive Methoden
in den Wissensraum ein, beschleunigen die allgemeine Zirkulation und
das Zusammenfließen von Informationen aus unterschiedlichen
Bereichen, schaffen Anschlußmöglichkeiten und Schnittstellen
zu anderen Wissensgebieten. Kurzschlüsse und Interferenzen zwischen
Diskursen werden zu produktiven Feldern, in denen sich Entdeckungen,
Erfindungen und Innovationen abspielen.
Das Denken selbst ereignet sich in den Zwischenräumen, im Übergang
von einem Gebiet in ein anderes. Wissen, wissenschaftliche Forschung,
ja selbst der Akt des Lesens können nicht mehr bloße Aufnahme
gegebener Informationen sein, sondern entstehen prozessual im Anzapfen
der im Netz zirkulierenden Informationspartikel.
Weisen Fußnoten, Indizes, Gliederungsfunktionen und Online-Hilfssysteme
mit überlappender Fenstertechnik schon über die Grenzen
linearer Texterfassung am Computer hinaus, so ermöglichen Hypertext-Programme
endlich eine Assoziative Verkettung von Textstellen mit anderen Texten,
Programmen, Grafiken und Animationen. Der Weg durch Informationsmengen
schreibt sich als Zusammenhang auch in das Wissenssystem ein und wird
selbst zu einem Informationsparameter. Als universelles und offenes
Informationsmedium steht dem Benutzer ein Netzwerk von selbst gestaltbaren
Ideen- und Daten-Assoziationen zur Verfügung. Hypermedia ist
die Ausdehnung dieses Prinzips in ein Interface zu Medien wie Video,
Tonträger, CD in ein Hyper-Media-Verbundsystem, das Konzepte
für die Verbindung verschiedener künstlerischer Ausdrucksträger
ermöglicht.
Die Kartographie der Computerkultur verzeichnet durchaus einige Projekte
[22], die vom Anspruch, vom Engagement der Beteiligten
und von den sozialen und kulturellen Vernetzungsprozessen, die sie
begleiten und auslösen, einen enzyklopädischen Charakter
haben.
Projekt Gutenberg
Das Projekt Gutenberg stellt in Kooperation mit anderen Initiativen
einen öffentlichen Netz-Zugriff auf digitalisierte Bücher
zur Verfügung, deren Copyright abgelaufen ist: "Unser Ziel ist
es, bis zum Dezember 2001 eine Trillion elektronische Texte verteilt
zu haben - d.h. 10.000 Titel an hundert Millionen Leser. Elektronische
Texte, die sowohl von Menschen, als auch von Maschinen gelesen werden
können."
[23]
Der Gebrauch einer solchen ungeheuren Textmasse in 'reinem' ASCII-Format
(d.h. ohne jegliche typographische Auszeichnungen - fette Überschriten,
kursive Zitate - oder hypertextuelle Verweisstrukturen wie Inhaltsverzeichnisse,
Register, Schlagworte) scheint allerdings begrenzt - diese Art von
'flachen Texten' eignen sich höchstens als Recherche-Material,
das mit Volltextsuche nach bestimmten 'Stellen' durchforstet wird,
die dann zu einem gezielt ausgewähltem Zitatenschatz-Depot
[24] ausgebaut werden können.
Da ist Raymond Queneau konzeptuell schon weitergegangen, indem er
dem Leser eine Maschine zur Generierung von hundert Milliarden Sonetten
abgeboten hat:
Sonett-Maschine
Nachdem im Verlauf der Literaturgeschichte unzählige konzeptuelle
(virtuelle) Dichtungsmaschinen, Kombinatoriken
[25] und narrative Konzepte entworfen worden sind, die einen aktiven
Leser verlangen - die aber allesamt aufgrund produktionstechnologischer
Trennungen und grundlegend verschiedener medialer Ausstattung von
Autor und Leser kaum zu 'wirklicher' poetischer Aktivität der
Leser führten - stellt Raymond Queneau aus dem Umfeld der Gruppe
OULIPO (l'Ouvroir de LittÇrature Potentielle) 1961 endlich eine verbesserte
Buch-Hardware zum Gebrauch als Dichtungsmaschine vor: zehn Sonette
sind auf zehn verstärkte Seiten so gedruckt, daß der Leser
zeilenweise blättern - und somit alle Zeilen aller Seiten mit
dieser kombinatorischen Poesie-Maschine
[26] miteinander kombinieren kann.
Expanded Books
Daß elektronisches Lesen keinesfalls heißen muß,
auf die gewohnten Funktionalitäten des Buch-Interfaces zu verzichten,
zeigen die sogenannten Expanded Books.
[27] Sie
stellen die bisher gelungenste Umsetzung von Buch-Benutzer- Metaphern
auf den Computer dar.
Das Anwendungsgebiet dieser elektronischen Texte klingt fast nach
klassischen hermeneutischen Operationen: es sollen optimierte Operationen
für aktives Lesen und Rezensieren am Bildschirm (wie Suchen,
Markieren, Anmerken, Exportieren ... ) unterstützt werden. Die
Grenzen der Expanded Books liegen darin, daß sie eben doch nur
'erweiterte Bücher' sind:
Sie stellen ein hervorragendes Distributions-Medium für linear
aufbereitete elektronische Dokumente dar, mit umfangreichen tools
für die Autoren, die allerdings für die 'elektronischen
Leser' nicht mehr verfügbar sind - es können z.B. keine
Querverweise mehr eingebaut werden, die Leseaktivitäten beschränken
sich auf Such- Operationen. Durch diese klare Trennung von Autor/Leser-Funktionen
die revolutionären Möglichkeiten des elektronischen Publizierens
nicht voll ausnutzen.
Roman als Kartenspiel
Döblins Diktum - man könne die Erzeugnisse der Epik unbedenklich
in Stücke zerschneiden, sie würden dennoch lebensfähig
bleiben - setzt Marc Saporta 1962 in einen zum Kartenspiel umfunktionierten
Roman um. Öffnet der Leser die Buch-Box, so findet er darin einen
Stapel von einhundertundfünfzig unpaginierten Karten nebst einer
Gebrauchsanweisung
[28] . Offene Kompositionsformen
der seriellen Musik, Mallarmes Aleatorik, die cut-up-Methode William
Burroughs gehen in die Funktionalität dieser literarischen 'Karten-Misch-Maschine'
genauso ein wie verschachtelte Narrationsexperimente des Noveau Roman.
In Anlehnung an künstlerische Buch-Objekte wird bei diesem Experiment
[29] nicht nur die Typographie aufgelöst, sondern
der materielle Körper des Buches selbst wird auseinandergerissen.
Paperassen
Man braucht sich bloß die Manuskripte von Proust oder Joyce
anzuschauen, um den immensen Widerspruch zwischen den raumgreifenden
Ausschweifungen multidimensionaler Schreibbewegungen und der eingegrenzten
Fläche der Buchseite studieren zu können. Gerade die Proustsche
Methode der 'memoire involuntaire' arbeitet sich von außen nach
innen in letztlich unendlichen Verschachtelungen von Episoden, die
immer weitere Erinnerungsprozesse freisetzen: selbst auf den Korrekturbögen
nahm Proust immer weitere Einfügungen vor, so daß letztlich
nur ein praktischer Trick der Haushälterin die Fortbewegung der
verzweigten Textmengen sichern konnte: bis zu 1,50 m lange ausfaltbare
Paperassen werden leporelloartig am Rand der Seiten angenäht.
Proust hat - die Effekte und Wirkungen seines Schreib-Experiments
ständig reflektierend - auch schon eine aktive Rolle des Lesers
entworfen, der als Benutzer seiner 'literarischen Maschine' in den
literarischen Kommunikationsprozeß mit einbezogen ist. Er fordert
den Leser immer wieder auf, den Text als Brille, Teleskop, Mikroskop
... zu benutzen - Anschlüsse
[30], Verbindungen
zu eigenen Erinnerungs- und Wahrnehmungsprozessen herzustellen.
Julio Cortazar: Himmel+Hölle
Eine andere extreme Grenzerfahrung narrativer Struktur- Spiele bietet
Julio Cortazars Roman Rayuela, der dem Leser in einem Wegweiser
[31]
ausdrücklich verschiedene Lese-Wege durch den Text anbietet und
ihn wirklich zum Hin- und Herblättern verführt - u.a. drängen
programmierte Endlosschleifen den Leser zu eigenen Entscheidungen.
Stuart Moulthroup: Informand und Rhetoric. Ein hypertextuelles
Experiment
Während viele Hypertext-Theorien lediglich experimentelle literarische
Arbeiten beschreiben, um im Rückgriff auf nicht-lineare Literaturformen
eine Geschichte/Poetik etc. des Hypertext zu entwickeln, wendet Stuart
Moulthroup hypertextuelle Vernetzungskonzepte auf den theoretischen
Diskurs selbst an: Er schreibt in kleinen numerierten Fragmenten (lexias),
die über Zahlen hinter Schlüsselwörtern und am Ende
eines jeden Abschnittes untereinder verknüpft sind. In einer
Weiterentwicklung von Cort zars Methode schlägt er mehrere Lesepfade
vor: linear bis zum 46. Abschnitt "pflichtgemäßer Schluß"
oder ein verzweigtes Lesen, das sich an den Verweisen orientiert ...
Lesemaschinen
An anderer Stelle hat Cortazar eine Maschine zum Lesen entworfen,
die RAYUEL-O-MATIC
[32] - ein Liegemöbel mit
einer Art Musiktruhe, in der Bar und Lese-Mechanismus nebst Programm-Knöpfen
untergebracht sind.
Raymond Roussel wollte die Verschachtelung seiner Texte, die durch
endlose Aufzählreihungen, Abschweifungen, Fußnoten und
Parenthesen mit 9- fachem Verschachtelungsgrad schwer zugänglich
sind, durch mehrfarbigen Druck übersichlicher gestalten - doch
seine Verleger lehnten solch aufwendige Verfahren im Jahre 1932 ab.
Bei einer surrealistischen Ausstellung wird dann 1937 eine "Roussel-Lesemaschine"
gezeigt, für die der Text auf Pappkarton nach der Art eines Rundregisters
montiert wird: der obere Rand ist je nach Verschachtelungsgrad mit
einer anderen Farbe versehen. Die Karten sind um die Achse einer Trommel
angebracht, die der Leser mittels einer Kurbel mit der rechten Hand
dreht, während er mit der linken die gewünschte Textkarte
an einer nach oben stehenden farbigen Marke festhält, so daß
die zusammenhängenden Textkarten (einer bestimmten Verschachtelungsebene)
hintereinander aufgeblättert werden können.
Philippe Sollers: Nummernroman
Ein Buch, das die experimentellen Schreibtechniken des Noveau Romans
und der Tel-Quel-Gruppe in einem radikalen Form-Inhalt-Gefüge
reflektiert: die projektive Rolle des Schreibens, die generative Funktionsweise
von Texten, die sich mit und aus anderen Texten schreiben. Im Mittelpunkt
des Romans stehen die Probleme des Anfangs, des Ursprungs und der
Sinnkonstitution. Der Text fungiert als Durchgangsortfür Schreiber
und Leser, die als provisorische Bewohner und Durchreisende gezwungenermaßen
die eigentlichen Akteure sind, die sich durch dieses offene Text-Geflecht
bewegen. Schreiben und Lesen als Transformationsprozesse in und aus
den dynamischen 'Speicherbausteinen' der Textfragmente.
[33]
Verknüpfen
Rhizomatische
[34] Verknüpfungsweisen lassen
sich bei hypermedialer Medienintegration gleichermaßen auf der
Ebene der Produktion, der Rezeption und der Kommunikation ausmachen:
Text, Schreiber/Leser, Welt/ Gesellschaft bilden zusammen ein Rhizom
und öffnen somit einen neuen Raum für textuelle, konversationelle
und diskursive Austauschprozesse, die jetzt nicht mehr nach dem einfachen
Kommunikatiosmodell (Sender-Message- Empfänger) ablaufen: Im
Netzwerk eines Rhizoms spielen sich Übertragungs- und Transportprozesse
intensiver Zustände ab. Ladungen (poetisch / diskursiv / informativ)
werden empfangen und abgeschickt, eingefangen und verteilt, angezapft,
aufgeteilt und wieder zusammengefügt.
Schreiben im Netzwerk hat nicht im klassischen Sinne mit Literatur
zu tun - als System Autor-Werk-Bedeutung- Markt - sondern damit, Neuland
im telematischen Raum zu vermessen, Textlandschaften anzulegen, Schreiben
und Lesen eben auch als eine nomadischen Akt des Umherschweifens durch
Text-Netzwerke zu begreifen. Die zusätzlichen Dimensionen des
hypertextuellen Zusammenschnitts verschiedener Textpartikel, die durch
permanentes Up- und Downloading zwischen verschiedenen Orten im Netz
zirkulieren, setzen die geistige Arbeit der Textproduktion als soziales
Netzwerk frei. Diese Textpartikel können an jeder Stelle unterbrochen,
zerrissen, verändert (und wieder verschickt) werden - während
sie gleichzeitig durch das Netzwerk zusammengehalten werden - und
ununterbrochen aufeinander verweisen.
Die Imaginäre Bibliothek
Nach verschiedenen Projekten auf Medienfestivals, in denen PooL-Processing
versucht hatte, vor Ort einen ironischen, ästhetischen, offenen
Umgang mit Informationen und Informationsmedien in Gang zu setzen,
ist die Imaginäre Bibliothek eine Fortsetzung des reinen "Informations-Processing"
mit anderen Mitteln: Ein Text/Bild-Archiv wird inszeniert - hypertextuelle
Navigationsprozesse werden mit poetischen Bruchstücken der Buchkultur
aufgeladen.
Der Leser als Reisender/Navigator/User wird zum neuen Helden, der
gegen die stupide Vorherrschaft designter Bild-Schirm-Medien einen
aussichtslosen einsamen Kampf führt.
Die Programmierung
[35] der Imaginären Bibliothek
setzt die Metapher einer labyrinthischen Bibliothek in Szene und folgt
damit dem postmodernen 'Sprachspiel' von der aktiven Rolle des Lesers,
die dann noch leichtfertig als 'Befreiungsideologie'
[36]
des Informationsmediums Computer ausgegeben wird.
Es wäre wirklich wunderbar, könnte man im Weben einer Hypertext-Struktur
der Entstehung von Gedanken beiwohnen - und das auch noch als gemeinschaftliches
- kooperatives - Bild-Schirm- Denken
[37].
Glas
Neben lexikalischen - alphabetisch organisierten - neuen Diskursformen,
hat Jacques Derrida 1974 mit GLAS ein Diskursexperiment vorgelegt,
das mittels typographisch-struktureller Textoperationen eine neuartige
Vernetzung von Texten inszeniert und somit praktische Konsequenzen
aus seiner radikalen Diskurskritik
[38] zieht, indem
das klassische Modell des Buches
[39] dekonstruiert
wird: der Diskurs (zwischen Hegel und Genet) entfaltet sich in einem
zweispaltigen Text- Umbruch, der ständig durch weitere Einfügungen,
Umleitungen, Einschübe etc. unterbrochen wird.
Gleichzeitig werden verschiedene Genres durchquert und durchlässig
gemacht: Hermeneutik, philosophische Textinterpretation, experimentelle
literarische Verfahren (wie Cut-Up, Collage) .
Tele-Phon-Buch
Es klingelt. Hallo. Wer spricht?
Radikal in der Anwendung medialer Diskurstechniken ist Avital Ronells
Theorie-Experiment "The Telephone Book". In Layout und Organisationsweise
strukturell an die Funktionsfähigkeit eines Telefonbuches angelehnt,
führt es die 'Dekonstruktion des Phonozentrismus' konsequent
auch in den eigenen Sprachgebrauch ein: Das Medium Telefon arbeitet
als aktive/lebende Metapher im Hintergrund des zur Telefonzentrale
umgerüsteten Buches. Die verschiedenen Diskurse ('Technology',
'Schizophrenia', 'Electric Speech') werden im Sinne telekommunikativer
Verbindungen zusammengeschaltet: weiße und gelbe Seiten, long-distance
calls, return calls (z.B. Derrida mit Freud), local calls. Die Diskurspartner
heben ab, legen auf, lassen das Telefon klingeln. Ein Spiel mit Typographie
und Layout führt den Leser vom linearen Leseweg ab und verführt
ihn dazu, Querverbindungen herstellen, von einem Strang zu einem anderen
zu springen, sich zu verirren.
Das Manual
[40] für Benutzer warnt mich ausdrücklich
vor dem Gebrauch dieses Buches.
MEMEX
"This has not been a scientist's war ..." hebt der visionäre
Prätext der Hypertext
[41]-Idee an ... (Bush 1945:101) und versucht im Folgenden die
Wissenschaft von der unmittelbaren Kriegsproduktion auf (zivile) Wissensproduktion
umzuprogrammieren:
Vannevar Bush, der wissenschaftliche Berater Präsident Roosevelts
und Koordinator amerikanischer Wissenschaftler, veröffentlichte
1945 in einem Artikel "As We May Think" (Bush 1945:101- 108) seine
Visionen über den Einsatz von Computern für ein wissenschaftliches
Informationssystem Memex. Im Gegensatz zu einer hierarchischen und
abstrakten Indexierung bisheriger (relationaler) Datenbanken, die
nur numerische oder alphabetische Sortierungen erlaubten, sollte Memex
ein Online-Text- und Retrievalsystem mit assoziativem Zugriff auf
Texte, Fotos, Zeichnungen und persönliche Notizen sein.
Die Suchwege, sogenannte "Knowledge Trails", der unterschiedlichen
Benutzer knüpfen im unstrukturierten Datenbestand Netze, die
Wissenspfade der Benutzer festhalten, indem sie ausgesuchte Textstellen
mit Grafiken oder anderen Textstellen assoziativ verketten. Randbemerkungen,
Fortschreibungen, Kommentare sind jederzeit möglich, ebenso die
Weitergabe von Wissens-Pfaden an andere Benutzer.
Leben in Netzwerken
Das 'soziale Gedächtnis' hatte schon immer eine Neigung, gerade
auch neue Technologien zur Bereicherung des Lebens in (zumindest zeitweise)
autonomem Zonen zu verwenden: auf der Suche nach ästhetischen
/sozialen/ imaginären/ geographischen / politischen 'Frei'-Räumen
[42] - die nicht noch nicht vollständig besetzt,
ausgemessen, codiert sind. Umherschweifen, durchqueren, entwischen,
erwischen, verwenden und entwenden, share und care ... gehören
zu den Operationen der nomadisierenden Computerkids, Hacker, der entwurzelten
User, der Hypermedia-Navigateure, die Softwarepakete, interaktive
CD-ROMs, Enzyklopädien, Voice- Mailboxen, Cyberspace-Technologien
... nicht mehr lediglich konsumieren, sondern neue Welten, Sichtweisen,
Verbindungen produzieren wollen.
Wohnen in Medien?
Telearbeit ist Heimarbeit. Diese Entwicklung überwindet nicht
nur bestimmte Trennungen von privat und öffentlich, sie schafft
die Vorstellung von Privatheit und Öffentlichkeit ab: die Terminals
sind ständig angeschaltet, Freizeit und Arbeitszeit, Privatdinge
und Apparaturen, virtuelle Spielwelten und sozialen Systeme werden
immer ununterscheidbarer. Der Daueraufenthalt in medialen Räumen
führt zu anderen Zeitvorstellungen, zu anderen Definitionen von
Raum, Anwesenheit, Besitz, Territorium, Haus, Home
[43]
bzw. Heim.
Der elektronische Weltbürger verbarrikadiert sich in seiner Tele-Monade.
Intelligente elektronische Architekturen wehren unerwünschte
"Gäste" - Einbrecher, Fremde, Asylanten - ab, während er
sich gleichzeitig an alle verfügbaren Netzwerke anschließt
- vielleicht aus Angst, aufgrund fehlender sozialer Kontakte, etwas
zu verpassen.
[44]
Immaterialien
Im Rahmen eines kollektives Schreibexperiments, das im Vorfeld der
von Lyotard konzipierten 'Immaterialien- Ausstellung' (28.3.-15.7.
1985 im Centre Beaubourg) stattfand, sollten die `Wirkungen der neuen
Informationstechnologien auf die Entstehung der Gedanken` untersucht
werden. Dieses frühe Beispiel für intertextuelle Textproduktion
mittels vernetzter Computerterminals stellt ein breit angelegtes Diskursexperiment
auf den unterschiedlichsten Ebenen dar:
30 Autoren aus verschiedenen Disziplinen (Kunst, Literatur, Wissenschaft,
Technik) schreiben ein halbes Jahr über vernetzte Computer in
eine zentrale Datenbank zu bestimmten Wörtern. Die Textbausteine
sind 2-10 zeilige Definitionen zu 50 Schlagwörtern
[45],
die sich auf die Fragestellungen der Ausstellung beziehen. Alle Definitionen
sind allen zugänglich und können beliebig ergänzt,
widerlegt, variiert werden. Das Lexikon dieses Prozesses ist während
der Ausstellung den Besuchern im "Labyrinth der Bibliothek" wiederum
als offenes Informationssystem zugänglich. Jeder Besucher der
Ausstellung kann sich einschreiben. Außerhalb des Museums zirkulieren
die Texte über (das französische BTX-System) MiniTel.
Europäisches Tagebuch
Ein anderes Netzwerk-Projekt setzt an der Schnittstelle Macht/Ohnmacht,
Zentrum/Peripherie, privat/öffentlich an. Die literarische Form
des Tagebuchs wird im Kontext neuer Öffentlichkeiten radikal
anders benutzt und erfährt so eine Entwendung: der abgeschlossene
geheime private Schreibraum wird in einen öffentlichen umdefiniert:
Das 'Europäische Tagebuch' wird direkt ins Netz geschrieben.
Ausgehend vom 'Zagreb Diary', in dem der Holländer Wam Kat seit
Frühjahr 1992 seine persönlichen Eindrücke vom Kriegsgeschehenn
im ehemaligen Jugoslawien - 'gewissermaßen wie offene Briefe
an meine Freunde oder an Menschen, die ich für Freunde halte'-
über Computernetze öffentlich macht, werden persönliche
Eintragungen, subjektive Geschichten und Erlebnisse quer durch Europa
in Netzen gesammelt und zusammengetragen - und somit der offiziellen
Medien- und Nachrichtenstruktur, den immer gleichlautenden Agenturmeldungen
entgegengesetzt. connect.
[46]
Überlauf des Gedächtnisses in vernetzten Datenbeständen
Hypermediale Erzählweisen (Postmoderne Literatur, Video-Clips,
interaktive Spiele, expanded Books, Edutainment, Dokudrama ...) stellen
- quer durch verschiedene mediale Träger - ein breites Spektrum
fragmentarisierter Versatzstücke dar, die über netzwerkartige
Verknüpfungen kulturell codiert und zusammengehalten werden.
Die Speicherkonzepte
[47] dieser 'kleinen Erzählungen'
beruhen nicht mehr auf dem klassischen Gedächtnis- und Erinnerungsorganisationen
(Kathedrale, Bibliothek, Gehirn) sondern verwandeln sich mehr und
mehr in hybride cyborgartige 'aktive Methaphern', die von technologischen
Aufschreibesystemen dominiert werden: Softmachine, Elektronengehirne,
künstliche Gedächtnisse, Datenbanken, Medien-Verbundsysteme
...
Die Lektüre digitaler Text-Netzwerke
[48] fordert und ermöglicht eine aktive Beteiligung des Lesers,
dessen gezieltes Umherschweifen durch die Text-Landschaften ihn zum
Mittäter macht.
Während in den frühen Manuskripten sich die Autoren für
ihre (physische) Abwesenheit entschuldigten und als einzige Rezeption
der Texte ein lautes Vorlesen infrage kam, beginnen viele (nicht digitale)
Texte über neue Schreibtechnologien oft mit der voranstehende
Klage, daß der zu lesende Text (leider) nur in gedruckter Form
vorliege, was dem Inhalt durchaus nicht adäquat sei und außerdem
eine Zumutung für den Leser darstelle, der sich den Text doch
lieber gleich als Hypertext
[49] besorgen solle.
Dieses Argument ist ebenso rhetorische Übertreibung und ein Stück
weit ideologische Verbrämung wie die schon eingangs erwähnte
Rede vom Ende der Gutenberg-Galaxis
[50].
Es überschätzt die noch wenig entwickelten Diskursformen
digitaler Textnetzwerke
[51] (Hypertexte, Hypermedia und den ganzen Bereich der 'online-Literatur')
und unterschätzt andererseits auch die gestalterischen Möglichkeiten
und rhetorischen Konzepte, die sich im Laufe der Geschichte des Schreibens
als Kulturtechniken herausgebildet haben. Neben literarischen Experimenten
quer durch die Literaturgeschichte werden - gerade in Übergangszeiten
des Medienwechsels
[52] Innovationen und Diskursexperimente hervorgebracht, die sich
geradezu als Antizipation des virtuellen Schreibens in digitalen Netzwerken
lesen lassen. Eine interdisziplinäre Sichtweise könnte eine
gleichermaßen technik- und kulturkritische - dekonstruktive
Praxis
[53] im Umgang mit den neuen Medien provozieren.
Telematische Spielwelten
Die Prinzipien der Partizipation und Interaktion finden sich noch
viel deutlicher ausgeprägt in den telematischen Spielwelten,
die die Rollenspiel- und Adventure-Environments in virtuellen telematischen
Räumen fortsetzen. MUDs (Multi User Dungeons) erlauben den Nutzern,
in eine Vielzahl verschiedener Rollen zu schlüpfen, Inkarnationen
aller Art zu erproben, Kostüme zu wechseln. Diese virtuellen
Gemeinschaften wachsen durch die Aktivitäten der Spieler. Es
entwickeln sich Doubletten zu bestehenden sozialen Räumen: Kirche,
Heiraten, Zeitschriften, Schule mit den entsprechenden eigenen sozialen
Problemen. Die nicht selten von Film- und Spiel- Companies (z.B. von
Lucasfilm) initierten grafisch aufwendigen Environments (die im Gegensatz
zu den text- basierten allerdings aus sehr stark vorgefertigten und
normierten Räumen bestehen) erscheinen als eine Verlängerung
von Science Fiction Spiel-Welten in eine sich entfaltende Netz-Werk-Kultur:
Real-Zeit- Spiele, virtuelle Galerien, virtueller Konsum, Sex, Kunst,
Konferenzen, Symposien, virtuelle Universitäten, Cafes, Salons
....
Im Gegensatz zum doch zumeist sehr konsumistischen 'net-surfen' durch
die Texturen des Word Wide Web stellen die MUDs den Usern gemeinsame
Orte/Architekturen mit verschiedenen Räumen/Zimmern zur Verfügung,
in denen mehrere Spieler gleichzeitig ineinander verwobene 'Dialoge'
- in einer Art Rollenspiel - führen können. Jeder Benutzer
/ 'Bewohner' dieser virtuellen Orte kann nicht nur in vorhandenen
Räumen agieren, sondern auch neue Räume konstruieren, sich
Objekte, Themen, Initiativen ausdenken, neue Handlungsstränge,
Ebenen, Gesetzte und Regeln einführen und naürlich selbst
auch in neue 'Rollen' schlüpfen. Neben spielerischen Verarbeitungen
sozialer Rollenkonflikte und möglicherweise auch Entwürfen
für neue soziale Architekturen ist vor allem die Entwicklung
von Computer-Supported Collaborative Work (CSCW) zukunftsträchtig:
Wissens-Architekturen
[54] , Multimedia-Datenbanken, die kooperativ und kollektiv von
mehr oder minder festgelegten oder offenen Gruppen gemeinsam benutzt
werden.
Soziale Architekturen
Daß der Cyberspace 'unregierbar'
[55] ist, zeigt u.a. die Ausbreitung virtueller Städte, die
ganz konkret neue Territorien, neue Landkarten, Nachbarschaften und
soziale Welten quer zu Nationalitätengrenzen entwerfen. Ähnlich
den subversiven Karten der Situationisten (auf denen die 'Brennpunkte'
der 68er- Bewegung von Paris nach Berlin usw. ... unmittelbar ineinander
übergingen) begreifen sich die 'lokalen' internationalen Städte
als Knotenpunkte einer weltweiten Vernetzung von kulurellen und gesellschaftlichen
Projekten - lokal und global gleichzeitig.
Die Stadtmetapher
[56] scheint das geeignete Struktur-
Funktions- und Gebrauchs-Modell für die neuen öffentlichen
Schreib-, Spiel- und Aktionsräume im Netz zu sein. Noch expliziter
als in den virtuellen Spielwelten werden hier gerade die Übergänge
zwischen privaten und öffentlichen Räumen zu den Zonen,
in denen ein ganz neuer offener Produktions-Raum sich herausbildet
- ein offener (multimedialer) Text in dem gelebt
[57]
werden kann.
Da seltsamerweise keines dieser hier erscheinenden Worte markiert
ist, kann ich kein Wort anklicken. Ich komme zunächst nicht weiter
[58], kann von diesem Text aus nirgendwohin
[59] gelangen.
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oder von den Autoren: The Computer Lab, Rt. 4 Box 54C, Louisa, VA
23093, USA für $ 35,-)
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DeskTop Bookshop (1994), engl. ASCII-Texte von tausenden Werken der
Weltliteratur (aus online- Archiven)
"Doors of Perception 1" vom 30-31. Oktober 1994 in Amsterdam, CD-ROM-Dokumentation
in Mediamatic VOL 8#1
"Doors of Perception 2. @HOME" vom 4-6 November 1994 in Amsterdam.
Dokumentation der Vorträge: http://mmwww.xs4all.nl/Doors/Doors.html;
auf CD-ROM in der Mediamatic VOL 8#2/3
Dufke, Klaus (1991), Proteus. Eine interaktive Hypertext-Installation
auf dem Apple Macintosh zur Rekonstruktion eines Romans und einer
Stadt, (Hypercard-Programm, lauffähig auf Macintosh, 8 MB - Informatinen
über Klaus Dufke Fax 040- 2369297)
Eastgate Sytems, 134 Main Street, Watertown, MA 02172, USA, Fax: 001-617-924-9051;
eastgate@world.std.com
Electronic Frontier Foundation: http://www.eff.org/
Europäisches Tagebuch: Netz-Werk-Schreibprojekt. in: Brett T-Netz/
Tagebuch in vielen Mailbox-Netzen (z.B. //BIONIC (Bielefeld): 0521/68000
- oder auf News- Servern unter /T-Netz.
Expanded Books, ca. 100 Bücher für Mac- Powerbook und Windows-Notebooks:
Voyager
Flusser, VilÇm (1987), Die Schrift, Göttingen (Text und Diskettenedition
(DOS): Immatrix Publications)
Grassmuck, Volker R. (1995), Die Turing Galaxis. Das Universal-Medium
auf dem Weg zur Weltsimulation: http://www.race.u-tokyo.ac.jp/RACE/TGM/tgm.html,
Sammlung von Links zu MUDS: a HREF=" http://ww.race.u-tokyo.ac.jp/RACE/MUD/mud.html">
http://ww.race.u-tokyo.ac.jp/RACE/MUD/mud.html
Gutenberg-Projekt:
http://jg.cso.uiuc.edu/welcome.html
HotWIRED:
http://www.hotwired.com
HyperKult CD-ROM (1995): Universität Lüneburg, Forschungszentrum
Karlsruhe, GI Fachgruppe "Computer als Medium": Hypertext- Anwendungen,
Experimente, Kunst- und Museums-Projekte (Informationen: Martin Schreiber:
04131-714472)
Hypertext-Hotel (kooperatives Schreibprojekt an der Brown-University
initiiert von Robert Coover):
http://duke.cs.brown.edu:8888/
Imaginäre Bibliothek (1990-1995), (Literarische Experimente,
elektronische Essays, Dokumentationen von PooL-Processing und kommentierte
Navigationshilfen zu Literatur-, Kunst- und Theorie-Projekten im WWW):
http://www.uni-hildesheim.de/ami/pool/home.html
Internationale Stadt (Berlin):
http://www.is.in-berlin.de
(Amsterdam):
http://www.dds.nl/
Klute, Rainer (1995), Das WWW-Kompendium. Multimedialer Hypertext
im Internet:
http://www.nads.de/~klute/WWW-
Kompendium/Inhalt.html
Mediamatic Magazine Art & Media, Tel/Fax: +31-(0)20-638 4534
Mediamatic-online:
http://mmol.mediamatic.nl
MediaMoo (kooperativer Medienforschungs-Raum am MIT): purple-crayon.media.mit.edu
8888
Nonlocated online > Digitale territories, incorporations and the matrix
(Redaktion Knowbotic Research: kr+cf@khm.uni-koeln.de):
http://www.uni-koeln.de/kr+cf/
online-books (Liste von über 600):
http://www.cs.cmu.edu/Web/books.html
Phoenix Project, Internet-Projekt zur Rekonstruktion der Bibliothek
von Sarajewo im Netz (Informationen über Ingo Günther: i-gun@Maestro.com)
"Poetry in Motion" (1992) von Ron Man: CD-ROM mit 24 Poetry-Performances,
Voyager
Storyspace: (1990-) Hypertext-Writing-Environment für Mac (incl.
HTML-Export) und Windows: Eastgate
"The Society of Mind"(1994) von Marvin Minsky: CD-ROM, Voyager
The Sprawl-ChibaMOO (Cyber-Fiction-Welt mit Chiba- Universität).
http://sensemedia.net/sprawl/
Voyager-Company (Expanded Books, CD-ROMS): Fax. 001- 212-431-5799;
Voyager@applelink.aple.com
Waxweb (interkommunikativer Film / hypernarrativ / kooperativ):
http://bug.village.virginia.edu; MOO: bug.village.virginia.edu
7777
wired (Netzwerk-Magazine): Fax: 001-415-222 6204; subscriptions@wired.com
Anmerkungen
1. Hypertext ist Sprache in Aktion, assoziatives
Verknüpfen von Sprachpartikeln, Visualisieren von Ideenfragmenten,
Bild-Schirm-Denken, Verzetteln, über den Rand Schreiben ... "[...]
betonen wir jetzt beim Gewebe die generative Vorstellung, daß
der Text durch ein ständiges Flechten entsteht und sich selbst
bearbeitet; in diesem Gewebe - dieser Textur verloren löst sich
das Subjekt auf wie eie Spinne, die selbst in die konstruktiven Sekretionen
ihres Netzes aufginge. (Barthes (1974): 94) Um einer genauen Definition
von Hypertext zu entkommen wird auch gern auf die 'klassische' Definition
Nelsons zurückgegriffen: "By Hypertext i simply mean non- sequential
writing; a body of written or pictorial material interconnected in
such a complex way that it could not be presented or represented on
paper. Hypertext is the generic term for any text, which cannot be
printed." Nelson (1987): 1/17) Vgl. Anm.41.
2. Intertextualität war in den politisierten
Literaturdebatten der siebziger Jahre der entscheidende 'Kampf'-Begriff
zur Aufhebung bürgerlicher Autoren-Funktionen zugunsten literarischer
Netzwerk-Modelle. Diese Impulse führten - neben einer explosionsartigen
Ausbreitung intertextueller Schreibweisen - auch zum Paradigmenwechsel
in der Literaturtheorie. Ein ausuferndes 'Lexikon' intertextueller
poetischer Praktiken liefert Genette (1993). 3.
Deshalb ist die oft vorgenommene Analogisierung zwischen der klassichen
Fußnote und dem link in elektronischen Texten auch nur bedingt
tauglich. Der narrativen Funktion von links kommt man aber doch
auf die Spur, wenn man extreme Gebrauchsweisen von Fußnoten
in literarischen oder theoretischen Texten verfolgt: Fußnoten
weisen über die (auch physische) Abgeschlossenheit nicht digitaler
Texte hinaus. Sie ermöglichen ein Schreiben über den Rand
des jeweiligen Diskurses. Als Absprungstellen für den Leser
fordern sie Interpretation, Kritik, eigene Suchbewegungen heraus
und bewirken einen Perspektivewechsel, der das diskursive und auktoriale
Zentrum des Textes aufsprengt und für Anschlußmöglichkeiten
an andere Texte und Diskurse sorgt. In dem Essay "Living On" (Derrida
(1979) untersucht Derrida Grenzlinien in Maurice Blanchots Texten
und kommentiert den Prozeß seiner Gedanken gleichzeitig, indem
er eine einzige Fußnote einsetzt, die unterhalb des gesamten
Textes parallel weiterläuft. Als narrative Stilfigur findet
sich die Fußnote extensiv eingesetzt im 10.Kapitel von Finnegans
Wake (Joyce (1947), in dem der Haupttext in der Mitte (Textmaterialien
einer Schulstunde) von Marginalien an den seitlichen Rändern
(Bezugsstellen und Anmerkungen zweier Brüder zum studierten
Text) und Fußnoten (die Beziehungen zwischen den Brüdern
und der Schwester herstellen) umrahmt wird. Der Leser wird hier
in einen Dialog zwischen verschiedenen Texten und Lesarten verwickelt,
der Akt des Lesens, das Navigieren im Text wird konstitutiver Bestandteil
des Textkörpers. Weitere Beispiele finden sich in Benstock
(1983). Leider ist in keinen mir bekannten Textverarbeitungs-Programm
die Möglichkeit gegeben, in Fußnoten wiederum Fußnoten
einzufügen - und somit eine Mehrfachverschachtelung zu erreichen,
wie sie etwa in Raymond Roussels Texten gegeben ist.
4. Eine 'Poetik des Transports' könnte vielleicht
das alte Konzept der Metapher als Netzwerkladungen verfügbar
machen, die durch Ankunft und Abreise, Import und Export, Ein- und
Ausgänge in Wissenspartikel organisiert werden. Neue Formen
der Begriffsbildung und der gesellschaftlichen Kommunikation entstehen
- eine aktive Semiose, in der Schreibende und Lesende fortwährend
neue Zusammenhänge entdecken, Spuren nachgehen, Kommentare
aufzeichnen.
5. Gemeint sind hier vernetzte elektronische Texte.
Die zum Editieren nötigen Hypertext- Programme wurden nach
einer Vorlaufphase in den sechziger Jahren dann in den achtziger
Jahren auch auf PCs verfügbar - eine allgemeine Verbreitung
wurde aber durch unterschiedliche Dokumentstrukturen verhindert.
Erst in den neunziger Jahren bildete sich ein universeller Hypertext-Standard
heraus, der sich wie ein Virus verbreitet: die Hypertext Markup
Language (HTML) - das 'natürliche' Austauschformat elektronischer
Texte im Word Wide Web (WWW). Die offene Struktur, die einfache
Bedienung der grafischen Oberfläche und die Tatsache, daß
für alle Rechnerplattformen Freeware-Browser und Editoren verfügbar
sind, führten dazu, daß die althergebrachten Internet-Dienste
(wie FTP, Newsgroups) inzwischen auch größtenteils in
das WWW- Konzept integriert wurden. Das WWW ist quasi zum Standard
des online-Publishing geworden und trägt mit zum derzeitigen
Boom des Internet bei. Seit der ersten Version des grafischen Browsers
Mosaic (Januar 1993) wuchs die Zahl der Web-Sites von fünfzig
auf über eintausendfünfhundert (Mitte 1994) - mittlerweile
sind schätzungsweise vierzigtausend Web-Sites online. Täglich
werden die entsprechenden Browser von mehreren tausend Usern von
den entsprechenden ftp-sites heruntergeladen (über zehn Millionen
allein für Mosaic). Der Netzwerk- Leser findet im WWW gestaltete
Textseiten vor, von denen aus er durch einfaches Anklicken Navigieren
kann. Durch das offene Austauschformat ist jede weitere Integration
anderer Medien (Bild, Ton, MPEG- komprimiertes Video ...) möglich,
wenn auch durch die langen Übertragungszeiten bisher nur begrenzt
praktikabel. Eine genaue Syntaxbeschreibung von HTML findet sich
in Klute (1995), das schon während der Entstehung - d.h. über
sechs Monate vor dem voraussichtlichen Erscheinen des Buches) verfügbar
war unter: A HREF=" http://www.nads.de/~klute/WWW-Kompendium/Inhalt.html">
http://www.nads.de/~klute/WWW- Kompendium/Inhalt.html. Hier
bietet der Autor den Lesern seines online-Manuskriptes auch eine
Mitarbeit bei der Entstehung des Buches an: Verbesserungsvorschläge,
Ergänzungen, sowie Bewertungen zu Struktur und Inhalt können
über ein Eingabefeld auf den entsprechenden Seiten (automatisch
per email) direkt an den Autor geschickt werden. Extensive Benutzung
von Annotationsmöglichkeiten finden sich in David Blairs "WaxWeb"
- Vgl. Anm. 54)
6. Das Mitschreiben und Abspeichern der Lesewege
durch das Netz ist eine wichtige Aktivität der Informations-Filterung
und Speicherung innerhalb des rhizomatischen Labyrinths im WWW.
Das Navigieren im Netz ist zwar eine oberflächliche Art des
Lesens, des Überfliegens von Informations-Landschaften, die
aber ihren eigenen Reiz hat. Im Unterschied zu den auf den Horizont
des einzelnen Lesers beschränkten Leseerfahrungen der Buchkultur
ist der Austausch der Navigations-Erfahrungen im Netz ein wichtiger
Bestandteil der Netzwerk-Kultur. Die Veröffentlichung von hotlists
ist eine Öffnung des eigenen Lese-Raumes, eine konkrete Weitergabe
von Quellen, Referenzen, interessanten Stellen im Netz, die gleichzeitig
das Profil und die Bezugspunkte der jeweiligen WWW-sites deutlich
machen. Ein hervorragendes Beispiel ist Meyers Hotlist: http://www.uni-kassel.de/fb3/psych/sim/sub/hameyer/boma.htm
7. Ted Nelson prägte in seinen visionären
Entwürfen hypertextueller Kommunikationslandschaften den utopischen
Begriff von elektronischer Literatur als "Dokuverse" :"Literature
is an ongoing system of interconnecting documents."(Nelson (1981)
:2/9 ff.) Vgl. Bolz (1993): 216 ff.): "Der Abschied von den diskreten,
privaten Dokumenten der Gutenberg-Galaxis ist eben auch ein Abschied
von den Ordnungsmustern Hierarchie, Kategorie und Sequenz. [...]
Es gibt gar keine Einzelgegenstände des Wissens [...] es sind
nur Knotenpunkte unzähliger Querverbindungen, Gatter und Netze."
8. Der Ursprung dieser Verräumlichung von
Daten findet sich in der antiken Rhetorik, die als Gedächtniskunst
vielfache Verfahrensweisen und Methoden der Verortung von Wissensbausteinen
entwickelte. Die immer wieder zitierte 'Home-Page' der Mnemotechnik
schildert als Ursprungsmythos drastisch die katastrophische Zerstückelung
von Körpern einer ganzen Tischgesellschaft: der gewerbliche
Dichter Simonides von Keos (556-468 v.u.Z.) rekonstruiert - als
einziger Überlebender - für die Nachkommen die Namen der
zu Tode gekommenen über die Sitzordnung bei Tische. (siehe:
Cicero (1976): 433 ff). Vgl. Anm. 56 Zur Art of Memory siehe Yates
(1990), zur Entwicklung der Desktop-Metapher Brand (1990): 170 ff),
zu Hypertext und Gedächtnis-Metaphern Idensen/Krohn (1990b),
zum Thema Gedächtniskunst als Cyberspace siehe Bartels (1991),
zu @home in Netz mediamatic 8'2/3, besonders Brody (1995).
9. "Ein Rausch kommt über den, der lange
ohne Ziel durch Straßen marschierte. Das Gehn gewinnt mit
jedem Schritte wachsende Gewalt; immer geringer werden die Verführungen
der Läden, der Bistros, der lächelnden Frauen, immer unwiederstehlicher
der Magnetismus der nächsten Straßenecke [...] eines
Straßennamens. Dann kommt der Hunger [...] Jener anamnesische
Rausch, in dem der Flanuer durch die Stadt ziegt, saugt seine Nahrung
nicht aus dem, was ihm da sinnlich vor Augen kommt, sondern wird
oft des bloßen Wissens, ja toter Daten, wie eines Erfahrenen
und Gelebten sich bemächtigen. (Benjamin (1982: 525) "Die Fragmente
des eigentlichen Passagenwerks kann man den Baumaterialien für
ein Haus vergleichen, von dem nur gerade erst der Grundriß
abgesteckt oder die Baugrube ausgehoben ist. [...] Neben der Baugrube
findet man die Exzerpte aufgehäuft, aus denen die Mauern errichtet
worden wären. Benjamins eigene Reflexionen aber hätten
den Mörtel abgegeben, durch den das Gebäude zusammenhalten
sollte. [...] Benjamins Absicht war, Material und Theorie, Zitat
und Interpretation in eine gegenüber jeder gängigen Darstellungsform
neue Konstellation zu bringen, in der alles Gewicht auf den Materialien
und Zitaten liegen und Theorie und Deutung asketisch zurücktreten
sollten." (Tiedemanns Einleitung zu: Benjamin (1982): 13)
10. Eco (1973) beschreibt verschiedene 'Kunstwerke
in Bewegung', die über das Ansprechen von Möglichkeitsfeldern
einen aktiven Interpretations- und Rezeptionsprozeß herausfordern
(Partituren serieller Musik, informelle Malerei, Visuelle Poesie,
Live-Fernsehsendungen, Querschnittstechniken bei Joyce): "Jedes
Ereignis, jedes Wort steht in einer möglichen Beziehung zu
allen anderen, und es hängt von der semantischen Entscheidung
bei einem Wort ab, wie alle übrigen zu verstehen sind." (Eco
(1973): 39) Die Kunstwerke werden als Mechanismen aufgefaßt,
derer man sich bedienen kann.
11. Vgl. Anm.57.
12. In einer aus Copyright-Gründen leider
nie veröffentlichten Arbeit hat Klaus Dufke das dritte Kapitel
des Ulysses (Joyce 1914) wieder auf den Stadtplan von Dublin zurückprojiziert,
so daß der Leser vom Plan aus in die entsprechenden Textstellen
springen kann (als Text, teilweise animiert, und vorgelesen - in
verschiedenen Versionen und Übersetzungen) sowie zu korrespondierenden
Bildern - somit können verschiede Erzähl- und Assoziationsstränge
verfolgt werden. (Programmiert mit Hypercard, lauffähig auf
Macintosh, 8 MB - Informationen über Klaus Duffke Fax 040-2369297)
13. In Perec (1982) wird ein weitverzweigter
Roman auf die Zimmer eines Mietshauses verteilt: 99 Kapitel (für
alle Zimmer des Hauses inklusive Kellerräume, Treppenhaus,
Eingangshalle, Hausmeisterloge), die nach Prinzipien von Schachbrettzügen
durchquert werden. Aus den Strukturen des Text-Hauses werden immer
wieder konstitutive Elemente für jedes Kapitel entwickelt,
die die Konstellationen der Personen, das Mobiliar, biographische
und geschichtliche Anspielungen, Zitate und literarische Bezüge
miteinander vernetzen. Thematisch steht eine aberwitzige Geschichte
um einen Puzzle-Künstler im Mittelpunkt der insgesamt wie ein
Puzzle ausgelegten Geschichten. Robert Coovers "Hypertext-Hotel"
(in dem verschiedene Hypertext-Experimente der Brown University
zusammenlaufen) arbeitet mit derselben Benutzermetapher:
http://duke.cs.brown.edu:8888/ Diese literarische Spielform
könnte gleichzeitig ein Vorbild sein für die am wenigsten
'literarischen' Spielformen im Netz: die MUDs (Multi User Dungeons).
Siehe Anm. 54.
14. "In unordentlichen oder ordentlichen Situationen
zufällig gefunde Gegenstände werden, genau dort, wo sie
sich befinden, auf ihrer Unterlage (je nach Zufall Tisch, Stuhl,
Schachteln u.a.m.) befestigt. [...] Das Resultat wird zum Bild erklärt."
(Spoerri 1968: 122)
15. "Auf einem Faltblatt in Innern dieses Buches
findet man ein Planzeichnung [...]. Die Zeichnung ist eine genaue
Topographie der von Zufall und Unordnung bestimmten Tischlandschaft
und zeigt die numerierten Grundrisse aller besprochenen Gegenstände.
Das Spiel, das ich nun vorschlage, besteht darin, sich auf dieser
Karte einen Gegenstand auszusuchen und dann die Beschreibung unter
der entsprechenden Nummer im Textteil nachzuschlagen. Die Anmerkungen
(dahinter verbergen sich Abschweifungen, Kommentare zu den jeweiligen
Gegenständen sind unter den Siegeln D.S. (Daniel Spoerri),
E.W. (Emmett Williams) und D.R. (Diter Rot) zu verschiedenen Entstehungsstadien
des Textes hinzugefügt worden, so daß zu einigen Anmerkungen
wiederum weitere Anmerkungen angefügt worden sind.) geben Texte
und Daten, welche über die einfache Beschreibung der Objekte
hinausgehen." (Spoerri 1968: 6)
16. Ein Anhang zeigt etwa in einer "Topographie
des Geordneten" die die Situation des Tisches am 21. Februar 1962
um 8 Uhr 7 in aufgeräumten Zustand. Solche 'Wucherungen' von
Texten und Büchern analysiert Genette (1989).
17. Bei dem gegenwärtigen Internet-Hype
brauchen die lokalen Mailboxen vor Ort (Übersichten finden
sich z.B. regelmäßig in der ct) keinesfalls in Vergessenheit
zu geraten. Sie bieten einen Zugriff auf vielfältige Dienste
(email, News) - teilweise finden sich hier auch aus dem Internet
'gefischte' Daten gut aufbereitet und gefiltert. Auch WWW-Zugriffe
sind in vielen Fällen geplant. Wer noch keinen 'direkten Draht'
zum Internet hat, braucht keineswegs zu verzweifeln: Web-Dokumente
können auch über email empfangen werden (Informationen
darüber erhält man, wenn man eine email zu "listserv@info.cern.ch
"sendet, mit www als (einzigen) Text). Bei dieser indirekten Informationsaufnahmen
aus dem WWW entfällt natürlich das reizvolle direkte Navigieren
- aber für den Empfang bestimmter ausgewählter Dokumente
ist es durchaus geeignet.
18. Die sozialen und gesellschaftlichen Vernetztungsprozesse,
die etwa durch den Buchdruck in Gang kommen, werden in Eisenstein
(1983) und Giesecke (1991) anschaulich und mit einer Fülle
von Beispielen aufgezeigt. Daß in historischen Umbruchsitutionen
des Medienwechsels (Vgl. Anm. 50) - etwa von der oralen Kultur zur
Druckkultur bzw. in der jetzigen Übergangsphase zu digitalen
Medienwelten - sich die Befürchtungen, Ängste und Einwände
gegenüber den - jeweils - neuen Medien ähneln zeigt Ong.(1987)
auf: Veräußerlichung, Entsinnlichung. Desubjektivierung
bzw. Abwesenheit des Sprechers/Autors, unkontrollierte Kopierbarkeit
ohne Authentizitätsgarantie sind etwa Vorwürfe, die zunächst
gegen die Hand-Schrift, dann gegen den Buchdruck, jetzt gegen digitale
Texte erhoben werden. Zur Versachlichung der Kontroverse um Heil
und Segen neuer digitaler Publikationsformen trägt Barlows
glänzende Beschreibung und Problematisierung digitaler Informations-Umwelten
bei. (Barlow (1994).
19. Ein Ausschnitt aus dem antiken Druck zum
Wissensbaum findet sich in der Imaginären Bibliothek (siehe
Anm. 59), eine Transkription des Schematas in d'Alembert (1989):
28-29).
20. Das Pariser Parlament bezieht sich in seinem
Verbot der Enzyklopädie 1759 explizit auf die subversive Funktion
der Querverweise ("[...] das ganze in diesem Wörterbuch verstreute
Gift findet sich in den Verweisen."). Mit Verweisen von einem Band
zu einem (erst später erscheinenden) anderen wurde die Zensur
geschickt umgangen, etwa im berühmt gewordenen Verweis von
'Menschenfresser' (Anthropophages) im ersten Band auf die Begriffe
'Kommunion' und 'Eucharistie' oder vom orthodox gehaltenen Artikel
'Jesus Christus ' auf den eher ketzerischen Eintrag unter 'Eklektizismus
' (s.a. d'Alembert/Diderot 1989: 20 ff.)
21. Gerade die Tafeln und Abbildungen der Enzyklopädie
setzen neue Standards im Wissensdesign und tragen wesentlich zur
praktischen Umsetzung und Anwendung des Wissens - vor allem in den
Bereichen Handwerk, Kunst und Buchdruck bei. Von den insgesamt fünfunddreißig
Bänden sind allein zwölf Bände den Tafeln und Abbildungen
gewidmet, zwei Registerbände verzeichnen Schlagworte, Wissensgebiete
und Stichworte. Auch die Zeichnungen und Tafeln sind in das komplexe
Verweissystem einbezogen, indem sie einerseits bestimmte Zusammenhänge
und Mechanismen darstellen, Details am Rande erklären - und
gleichzeitig Verweise auf übergreifende Artikel enthalten,
die diese Einzelfunktionen wiederum in einen größeren
Zusammenhang stellen. Die enzyklopädische Montage zeigt Querschnitte
durch Maschinen und Arbeitsvorgänge, breitet die einzenen Objekte
vor dem Leser so aus, daß dieser diese wieder zum eigenen
Gebrauch zusammensetzen kann. Als großangelegtes erstes kapitalistisches
Buchprojekt (die Geschichte dieses Projekts wird ausführlich
und spannend erzählt in Darnton 1993) beinhaltet sie gleichzeitig
Gebrauchsanweisungen zur Buch-Herstellung (von der Papierproduktion
über das Setzen bis zum Druck): "In jedem dicken Buch steckt
ein dünnes, das heraus will." (ebd.:9) Der Gebrauch der Enzyklopädie
ist also der eines aktiven, operationellen 'Nachschlagens' - zur
fortlaufenden Lektüre nicht geeignet.
22. Das "Phoenix Project" ist ein Versuch, im
Internet eine digitale Bibliothek einzurichten: An verschiedenen
dezentralisierten Orten in der ganzen Welt sollen Archiv-Center
eingerichtet werden, in denen bosnische und kroatische Menschen
die Möglichkeit haben, ihre Lieblingbücher einzuscannen.
In Kooperation mit verschiedenen Bibliotheken (u.a. der New York
Public Library), die slawische Abteilungen pflegen, und der Brown
University (an der viele Pilotprojekte zum elektronischen Publizieren,
zu literarischen Hypertexten etc. laufen) werden die Texte nach
und nach im Netz allgemein zur Verfügung gestellt, während
gleichzeitig - zunächst in Kellerräumen der ausgebrannten
Bibliothek in Sarajewo - für die Bevölkerung von Sarajewo
Terminalräume eingerichtet werden, über die sie Zugriff
zu der digitalen Bibliothek haben. Darüber hinaus funktioniert
diese 'digitale Bibliothek' auch als ein Kommunikationssystem, ähnlich
den Wandzeitungen im revolutionären China ... (Informationen
über Ingo Günther: i-gun@Maestro.com - siehe auch: Ingo
Günther (1995). Diese Sondernummer (ISSN 1019-4193) der Zeitschrift
Medien.Kunst.Passagen, stellt verschiedene Netzwerkprojekte - als
ausklappbare Maps gebunden - vor. Ein Versuch, den Texten auch im
Druckmedium eine karthographische Funktion zukommen zu lassen. Eine
geplante online-Version' ist zu suchen unter:
http://www.uni-koeln.de/kr+cf/)
23. http://jg.cso.uiuc.edu/welcome.html.
Bis jetzt sind hier über zweihundertundfünfzig Titel verfügbar
- in einer anderen Liste ( http://www.cs.cmu.edu/Web/books.html),
die auch digitale Texte aus anderen Projekten verzeichnet, sind
über sechshundert Titel aufgeführt - neben den Klassikern
etwa auch James Joyce, Ludwig Wittgenstein und viele Texte aus dem
Bereich Computer/Netzwerke - teilweise mit Illustrationen - viele
Texte liegen auch direkt im HTML-Hypertext-Format vor. Auch CD-ROM
'Auskopplungen' dieses immensen online- Bücherbestandes (z.B.
"Desktop BookShop") sind verfügbar.
24. Dabei stellt sich nicht nur das Problem,
daß es sich hierbei ausnahmslos um englische Texte handelt,
sondern die Zitierfähigkeit dieser aufgefundenen Textstellen
leidet auch darunter, daß die gebräuchlichen Angaben
(etwa die exakte Seitenzahl in dem entsprechenden Werk) aus dem
elektronischen 'Scroll-Text' nicht mehr ermittelt werden können.
25. "Nehmt eine Zeitung. Nehmt Scheren. Wählt
in dieser Zeitung einen Artikel von der Länge aus, die Ihr
eurem Gedicht zu geben beabsichtigt. Schneidet den Artikel aus.
Schneidet dann sorgfältig jedes Wort dieses Artikels aus und
gebt sie in eine Tüte. Schüttelt leicht. Nehmt dann einen
Schnipsel nach dem anderen heraus. Schreibt gewissenhaft ab in der
Reihenfolge, in der sie aus der Tüte gekommen sind. Das Gedicht
wird Euch ähneln. Und damit seid Ihr ein unendlich origineller
Schriftsteller mit einer charmanten, wenn auch von den Leuten unverstandenen
Sensibilität." (Tristan Tzara in Riha (1982): 69) Den Charme
dieser frühen selektiven Poetikmaschine können die heutigen
Infomationsmanagementsysteme wohl kaum erreichen. Beiden gemeinsam
ist der poetische Akt als Auswahlmechanismus - als Filterung eines
gegebenen Datenbestandes - Zusammenschnitt aus dem Zusammenhang
gerissener Fragmente zu einer neuen Gestalt.
26. In der Gebrauchsanweisung heißt es:
"Dieses kleine Werk [...] das jedermann erlaubt, nach Belieben hunderttausend
Milliarden Sonette zu bilden [...], ist alles in allem so etwas
wie eine Maschine zur Herstellung von Gedichten. [...] Mit jedem
Vers (zehn an der Zahl) kann man zehn verschiedene Verse in Übereinstimmung
bringen; es gibt also hundert verschiedene Kombinationen der beiden
Verse.; wenn man einen dritten hinzufügt, wird es tausend geben,
und für die zehn vollständigen Sonette aus vierzehn Versen
hat man also das oben genannte Ergebnis. [...] Wie LautrÇamont so
schön gesagt hat, die Poesie soll von allen gemacht werden,
nicht von einem." (Queneau (1984) o.S. aus gegebenem Anlaß!)
27. Die Expanded Books sind speziell für
Macintosh-Powerbooks entwickelt (640x400, S/W Grafiken, 4 MB) -
ein portables Environment, das ein komfortables Lesen digitaler
Texte in unterschiedlichen Umgebungen ermöglichen soll. Die
Bildschirmoberfläche wird zum Buch mit folgenden Funktionen:
-Markieren von Textpassagen per Schriftschnitt oder Anstreichung
am Rand -Markierungen über 'Eselsohren' (mit Kommentar) und
vier 'Büroklammern' -Anmerkungen in kleinerer Schrift im Randbereich
- Eine einfache Suchfunktion eingebauterlaubt das Erstellen eigener
Index-Verzeichnisse -Übernahme von Textteilen in ein Notizbuch
für komplexere Anmerkungen, die (samt Zitat mit automatischer
Stellenangabe) exportierbar sind. Nachdem die kalifornische Voyager
Company schon eine Unzahl dieser elektronischer Bücher (hauptsächlich
'klassische' Literatur und Bestseller) für den amerikanischen
Markt publiziert hat, ist jetzt die Programmoberfläche, mit
der diese elektronischen Bücher produziert worden sind, verfügbar:
das Expanded Book Toolkit. Das Umsetzten von Fließtext in
das Expanded Book- Format geschieht über eine einfache Import-
Funktion. Die oben beschriebenen Standard-Funktionen sind dann sofort
verfügbar. Editiert werden müssen dann nur noch die gewünschten
Querverbindungen (Links), etwa von Inhaltsverzeichnissen auf die
entsprechenden Seiten oder Verschlagwortungen nach Registerverzeichnissen.
Da das Toolkit auf 'Hypercard' aufsetzt, sind auch leicht Anpassungen
an spezielle Umgebungen möglich. Voyager hat inzwischen auch
einige multimediale CD-ROMs mit diesem Toolkit produziert, die zu
den interessantesten Produktionen (im Bereich Literatur, Kunst,
Wissensvermittlung) gehören: "Poetry in Motion" Lesungen/Performances
und Interviews amerikanischer Dichter - u.a. Bukowski, Burroughs,
Cage, Ginsberg - zu denen parallel die jeweiligen Textstellen auf
dem Bildschirm erscheinen. Das Anklicken einer bestimmten Textstelle
läßt die Lesung sofort zu eben dieser Stelle springen.
Vgl auch Marvin Minskys "The Society of Mind": die vernetzte Struktur
von dreihundertundacht Wissenspartikeln wird hier dem Leser zur
assoziativen Verknüpfung dargeboten - unterstützt durch
teils animierte Grafiken und digitale Videosequenzen. Der Testlauf
der bisher einzigen deutschen Veröffentlichung (Bukowskis "Kaputt
in Hollywood" vom Maro-Verlag) wurde wegen mangelnder Resonanz leider
eingestellt.
28. "Der Leser wird gebeten, diese Seiten wie
ein Kartenspiel zu mischen. Abheben darf er, falls er es wünscht,
mit der linken Hand, wie bei einer Kartenschlägerin. Die Reihenfolge,
in der die Blätter liegen, entscheidet über das Los des
Mannes X. [...] Von der Verkettung der Umstände hängt
es ab, ob das Geschehen gut oder schlecht endet. Ein Leben setzt
sich aus vielerlei Teilen zusammen. Aber die Zahl der möglichen
Zusammensetzungen -compositions- ist unendlich." (zit nach Grimm
(1965): 1173)
29. Das Personenverzeichnis führt eine
Art Chor für 17 Stimmen auf, die einzelnen Karten stellen abgeschlossene
Kurzprosa-Fragmente mit offenen Anschlußmöglichkeiten
dar; Narration, Reflexion und Dialoge der Personen spielen sich
konsequent im neutralen Präsens ab ... Der Mißerfolg
dieses formal innovativen Puzzle-Romans (der in der Literaturgeschichte
kaum Spuren hinterlassen zu haben scheint und in keinem Katalog
zu finden ist) liegt im Vergleich zur Sonettmaschine sicherlich
in der Schwierigkeit, eine kombinatorische Narration mit wirklicher
Leser-Beteiligung zu entwickeln: Was ist Einsatz und Sinn des Spiels?
Um welche Achse, welches Zentrum drehen sich die epischen Verkettungen?
Kann der Leser wirklich in den Verlauf der Geschichten eingreifen?
30. "In Wirklichkeit ist jeder Leser, wenn er
liest, ein Leser nur seiner selbst. Das Werk des Schriftstellers
ist dabei lediglich eine Art von optischem Instrument, das der Autor
dem Leser reicht, damit er erkennen möge, was er in sich selbst
vielleicht sonst nicht hätte schauen können." (Proust
(1957): 329) Siehe auch Anm. 47.
31. "Das erste Buch läßt sich in
der üblichen Weise lesen. Es endet mit dem Kapitel 56, unter
der sich drei auffällige Sternchen befinden, die gleichbedeutend
sind mit dem Wort Ende. Folglich kann der Leser ohne Gewissensbisse
auf das verzichten, was folgt. Das zweite Buch läßt sich
so lesen, daß man mit dem Kapitel 73 anfängt und dann
in der Reihenfolge weitermacht, die am Fuß eines jeden Kapitels
angegeben wird. Falls man dabei durcheinanderkommt und etwas vergißt,
genügt es, das folgende Verzeichnis zu befragen: 73-1-2-[...]
63-88-72-7-131-58-131 Um das rasche Auffinden der Kapitel zu erleichtern,
wird die Nummer jedes Kapitels am oberen Rand jeder Seite wiederholt."
(Cort zar (1981): 7)
32. A.- Auf Knopfdruck beginnt die Maschine
mit dem 73. Kapitel (es öffnet sich Schublade 73); wenn man
diese schließt, öffnet sich Nr.1, und so fort. [...]
D.- Knopf, der zur Lektüre des Ersten Buches bestimmt ist,
das heißt fortlaufend vom 1. bis zum 56. Kapitel. Schließt
man die Schublade Nr.1 öffnet sich die Schublade Nr. 2, und
so fort. E.- Knopf, um die Maschine abzuschalten, sobald man den
Endzyklus erreicht hat: 58-131-58-131-58 usw. F.- Bei dem Modell
mit Bett öffnet dieser Knopf den unteren Teil und das Bett
steht bereit. [...] In einer zusätzlichen Anleitung wird Knopf
G erwähnt, den der Leser im äußersten Fall drücken
soll, und der dazu dient, den ganzen Apparat in die Luft zu sprengen.
(CortÖzar (1979):104 ff)
33. Formal wird diese jegliche Linearität
deformierende Textkonstitution aus ständigen Neuanfängen,
Einschüben, Zurücknahmen, zerstörerischen Einfügungen
durch eine Folge von 25 Blöcken mit je 4 Sequenzen verwirklicht.
Die so entstehenden 100 Kapitel tragen jeweils vor ihrer durchlaufenden
Nummerierung die entsprechende Sequenznummer: 1. / 2. / 3. / 4.
/ 1.5 / 2.6 / 3.7 / 4.8 .... 4.100, wobei die Sequenzen 1-3 jeweils
im Imperfekt abgefaßt sind, während die Sequenz 4 im
Präsens steht. Im Wechsel einer solchen Sequentialisierung
entsteht ein ständiger Materialkreislauf von Elementen, die
jeweils durch ihre Nachbarschaften verdoppelt, aufgeladen und definiert
werden. Personenkonstellationen werden durch ein Spiel von Personalpronomen
in Szene gesetzt.
34. "Ein Rhizom ist ein Gewirr von Knollen und
Knoten und sieht aus wie Ratten, die durcheinanderwimmeln". Die
Charakteristika einer rhizomatischen Struktrur sind die folgenden:
"a) Jeder Punkt des Rhizoms kann und muß mit jedem anderen
Punkt verbunden werden. b) Es gibt keine Punkte oder Positionen
in einem Rhizom; es gibt nur Linien [...] c) Ein Rhizom kann an
jedem Punkt abgebrochen oder neu verbunden werden, indem man einer
der Linien folgt. d) Das Rhizom ist anti-genealogisch. e) Das Rhizom
hat seine eigene Außenseite, mit der es ein anderes Rhizom
bildet; daher hat ein rhizomatisches Ganzes weder Außen noch
Innen. f) ein Rhizom ist kein Abdruck, sondern eine offene Karte,
die in all ihren Dimensionen mit etwas anderem verbunden werden
kann; es kann abgebaut, umgedreht und beständig verändert
werden." (Eco (1989): 106)
35. Programmoberfläche: Storyspace Im Gegensatz
zu gängigen Textverarbeitungs-, Desktop-Publishing- oder auch
präsentationsorientierten Hypertext-Programmen liegt der Schwerpunkt
von Storyspace darin, spontane Schreib-Prozesse zu unterstützen
und Strukturen für das Zusammenspiel und die Verknüpfung
von Ideen zur Verfügung zu stellen. Erreicht wird diese Funktionalität
durch eine Verräumlichung des Schreibaktes: Die kleinsten Schreibeinheiten
(Writing-Spaces) werden als Boxen visualisiert, zwischen denen Querverbindungen
durch (benennbare) Pfeile hergestellt werden können. Schreiben
und Lesen wird zu einem Akt dynamischer Vernetzung von Ideenfragmenten,
zu einem grafischen Mapping von Gedankenbildern. Zur elektronischen
Weitergabe der Dokumente liegen eine Vielzahl unterschiedlicher
Reader vor, die als selbständige Programme ablaufen. Mac und
Windows-Versionen sind datenkompatibel (Quicktime-Einbindung und
HTML-Export - zum Aufbau von Hypertext-Dokumenten im WWW- bisher
nur in der Mac-Version). Informationen zum Programm und zu Hypertext-Projekten
über: http://northshore.shore.net/~eastgate/
36. Dabei ist die Bibliothek wahrscheinlich
hermetischer als alle Beschreibungen und Beschwörungen vom
offenen (Hyper-) Text es wahrhaben wollen - und vielleicht ist es
gerade diese (relative) Abgeschlossenheit (bei unendlichen Kombinationsmöglichkeiten),
die "funktioniert" und dem Leser wirklich die Illusion vermittelt,
einen produktiven Akt auszuführen, wobei das Struktur- Zitat
der unendlich fragmentarisierten Bibliothek gerade den wunden Punkt
der Leser (und Schreiber) im Zeitalter der technischen (Re-) Produzierbarkeit
von Texten zu treffen scheint: strukturell kann die Imaginäre
Bibliothek sowohl als ein Micromodell eines universellen Computernetzes
oder eben als eine 'verrückt gewordene' Gutenberg-Galaxis gelesen
werden. Ob der Leser aus diesen Verirrungen, aus diesem 'programmiertem
Unsinn' wirkich eigene produktive Sinnstränge herausliest,
oder sich lediglich einem oberflächlichen Umherschweifen und
Stöbern überläßt sei dahingestellt.
37. Vgl. Idensen/Krohn (1994)
38. Es geht nicht darum, der Buchhülle
noch nie dagewesene Schriften einzuverleiben, sondern endlich das
zu lesen, was in den vorhandenen Bänden schon immer zwischen
den Zeilen geschrieben stand. Mit dem Beginn einer zeilenlosen Schrift
wird man auch die vergangene Schrift unter einem veränderten
räumlichen Organisationsprinzip lesen. [...] Was es heute zu
denken gilt, kann in der Form der Zeile oder des Buches nicht niedergeschrieben
werden." (Derrida (1974: 155)
39. "Entgegen allem Augenschein kündigt
dieser Tod des Buches zweifellos bloß einen Tod des gesprochenen
Wortes [...] und eine Mutation in der Geschichte der Schrift, in
der Geschichte als Schrift an [...] sei sie nun alphabetisch oder
nicht, selbst wenn das von ihr Ausgestrahlte nicht im Reich der
Stimme liegt: Kinematographie, Choreographie, aber auch "Schrift"
des Bildes, der Musik, der Skulptur usw. Ebensogut könnte man
von einer athletischen Schrift sprechen und [...] von einer Schrift
des Militärischen oder des Politischen [...] spricht auch der
Biologe heute vom Schrift und Pro-gramm. Und endlich wird der ganze,
von kybernetischen Programm eingenommenen Bereich [...] ein Bereich
der Schrift sein." (Derrida (1974: 20,21)
40. "Das Telefonbuch setzt dir Widerstand entgegen.
Indem es mit der Logik und dem Thema der Schalttafel operiert, setzt
es die Destabilisierung des Empfängers in Gang. Deine Aufgabe
[...] ist es zu lernen, mit den Ohren zu lesen. [...] Zuerst magst
du die Entwicklung des Buches verwirrend finden, aber wir mußten
die logische Typographie durchbrechen. Wie elektrische Impulse ist
dieses Buch mit Signalen überschwemmt. Um die einschließende
Souveränität des Buches aufzubrechen, haben wir Schweigen
und Fehlschaltungen simuliert, damit der ruhige Rhythmus von Paragraphen
und konventionellen Aufteilungen außer Kraft gesetzt wird.
[...] Du wirst mit der Zeit sensibel werden für das An- und
Abschalten von eingeschobenen Stimmen, verschiedenen Anrufen. Antworte
wie du am Telefon antworten würdest, denn die Telefonanrufe
sind unaufhörlich [...] Wenn du aufhängst, verschwinden
sie nicht, sondern warten im Hintergrund. Es gibt keinen Ausschalter
für das Technologische. " (Ronell 1989: A Users's manual; Übertragung
H.I.)
41. Hypertext als nicht-sequentielles Schreiben
und Lesen ist von Anfang an als ein Produktionssystem konzipiert
worden, das Denkprozesse durch die Visualisierung komplexer Strukturen
prozessural unterstützen soll. Leider wird es bei der Mehrzahl
kommerzieller Sofware auf ein reines Präsentationssystem reduziert,
das zudem - versehen mit unzureichenden "read-only"-Run-time Modulen
- nicht einmal ein Verbreiten von Hyperdokumenten erlaubt. Da in
den technischen Informationsenvironments alles mit allem verbunden
werden kann und zudem die Fäden der Bedeutungsvektoren (der
Links) nicht mehr im Menschen selbst zusammenlaufen, ist die Frage
nach einer ästhetischen Programmierung der Informationstechniken
eine entscheidende. Hypertext ist eine Operationalisierung von Informations-,
Kommunikations- und Sprachbildungsprozessen auf den Oberflächen
informationsverarbeitender Systeme: in objektorientierten Bildschirmmanipulationen
vollziehen sich grundlegende kulturelle semiotische, textuelle,
poetische Aktivitäten. Vielleicht ist Hypertext deshalb Ausgangspunkt
und Gegenstand so zahlreicher Spekulationen über die Zukunft
der Literatur und der gesellschaftlichen Kommunikation, weil hypertextuelle
Operationen genau das vollziehen, was wir ohnehin in der Literatur,
der Wissenschaft, der Poetik ... als Diskurstechniken für die
Zirklation von Ideen einsetzen: Querverbindungen herstellen, Verweisen
folgen, Wissenpfade anlegen, Informationspartikel sammeln, explorieren,
organisieren, verteilen, senden und empfangen: Netzwerke anlegen.
Vgl. Anm. 1.
42. "[...] psychisch Reisende, die von Begierden
und Neugier getrieben werden, Wanderer mit schwachen Loyalitäten,
die nicht an Ort und eine Zeit gebunden und auf der Suche nach Vielfalt
und Abenteuer sind ... Diese Beschreibung trifft nicht nur auf x-klassige
Künstler und Intellektuelle zu, sondern auch auf Arbeitsmigranten,
Flüchtlinge, die "Obdachlosen", Touristen, die Wohnmobilkultur
- auch Leute, die via Netz "reisen", ihre eigenen Zimmer aber nie
verlassen; und schließlich [...] alle, die wir mit unseren
Automobilen, unseren Ferien, unseren TVs, Büchern, Filmen,
Telefonen, Jobwechseln, wechselnden "Lifestyles" [...] leben.
Psychischer Nomadismus als Taktik, Deleuze & Guattari sprechen metaphorisch
von "der Kriegsmaschine", verschiebt das Paradox von einem passiven
zu einem aktiven oder vielleicht sogar "gewaltsamen" Modus. [...]
Diese Nomaden richten ihre Reisen nach seltsamen Sternen aus, die
luminöse Datencluster im Cyberspace oder vielleicht auch Halluzinationen
sein können. Breite eine Landkarte aus, darüber eine Karte
der politischen Veränderung; darüber eine Karte des Netzes,
besonders des Gegen-Netzes [...] und breite zum Schluß dann,
über alles, die Karte der kreativen Imagination, Ästhetik
und Werte im Maßstab 1:1. Das entstehende Gitter wird lebendig,
animiert von unerwarteten Energiewirbeln und -strömen, Lichteruptionen,
geheimen Tunneln, Überraschungen." (Bey 1994: 114 und 120)
Vgl. Anm.57.
43. Viele Facetten des (virtuellen) Homes beleuchtete
die Konferenz "Doors of Perception 2. @HOME" vom 4-6 November 1994
in Amsterdam. Eine Dokumentation der Vorträge findet sich im
WWW unter: http://mmwww.xs4all.nl/Doors/Doors.html"
oder in der Mediamatic 8 '2/3.
44. Vgl. Agentur Bilwet 1993: 37-41
45. Atem / Autor / Befehl / Beweis / Bild /
Code / Empfänger / Entmaterialisierung / Fassade / Gedächtnis
/ Geld / Geste / Gleichzeitigkeit / Grenzen / Geschwindigkeit /
[...] Natur / Navigator / Netz / Prothese / [...] verführen
/ verschwommen / vielfach / wohnen / Wunsch / Zeichen / Zeit (Die
vollständige Liste und Hintergrundmaterial ist zu finden in:
Lyotard (1985): 17)
46. Es piept lang anhaltend. Die Verbindung
steht. Folgende Eingaben flitzen in Realtime über den Bildschirm,
so daß kaum Zeit zum Lesen bleibt : "Geschwindigkeit für
mich ist unumgänglich - email ist schnell und der Alltag hier
ist schnell, die Tage verändern sich Tag für Tag -, da
ich stets vor den offiziellen Worldnews liegen will. Indem ich euch
da draußen darauf vorbereite, daß in nächster Zukunft
etwas passiert, mache ich euch etwas unabhängiger vom Fernsehen
oder den Zeitungen. ( :- " (WAM, 18.7. 1992) Wer mitschreiben möchte,
sendet Beiträge in das Brett /T-NETZ/TAGEBUCH. Wie? In die
Betreffzeile zu dem Text und an den Anfang jedes Tagebuchtextes
bitte Namen, Ort und (Abfassungs)- Datum schreiben. Um weder Leser
noch Schreiber zu überfordern, sollte man einen Umfang von
etwa ein oder zwei Bildschirmseiten pro Woche als Richtmaß
ins Auge fassen. Wichtiger als Länge ist Kontinuität.
Viel Spaß beim Tagewerken. (Peter Glaser, 11.1.1993 20:53:33,
der die Übersetzungen und die Koordination des Projekts übernommen
hat. (p.glaser@bionic.zer.de) Das Brett T-Netz / Tagebuch ist in
vielen Netzen zu finden - so auch in der //BIONIC - Mailbox (Bielefeld):
0521/68000) - oder auf News-Servern unter /T-Netz.
47. In Dyens (1995) wird eine interessantes
Modell für den Informationsaustausch zwischen Mensch-Maschine
entwickelt, das eine Fortsetzung viraler Sprach-Theorien aus der
Frühzeit der Medientheorie (Vgl. Burroughs 1970) zu sein scheint:
Der Austausch von 'Ideen-Viren' ('memes') wird als topographisches
Modell von (organischen und nicht- organischen) Ideen-Landschaften
'memescape' genannt: hier entstehen die Meme, begegnen und verkoppeln
sich. Der Cyberspace als auch die gesamte Medienkultur kann als
ein solcher Austausch-Prozeß beschrieben werden.
48. Einen wunderbaren Überblick über
Netzwerk-Aktivitäten bietet Volker Grassmuck, der auch - in
Absetzung von der Gutenberg- Galaxis - gleich ein neues Paradigma
für das neue Zeitalter parat hat - "Die Turing-Galaxis", die
zunächst noch mit den Benutzermetaphern der Gutenberg-Galaxis
arbeitet: "Der Computer tut so, als sei er Schreibmaschine, Gedrucktes
und Bibliothek. [...] Bibliothekare gehörten zu den ersten,
die die neue Galaxis erschlossen und besiedelt haben. Mehr als tausend
Bibliothekskataloge sind heute online, über siebenhundert digitale
Zeitschriften, Hunderte von Volltextbüchern [...] Wir beobachten
heute einerseits, daß traditionelle Bibliotheken [...] sich
auf Volldigitalisierung und Vernetzung zuentwickeln. Andererseits
hat sich in der bislang wenig bibliophilen Matrix eine Hypertextoberfläche
herausgebildet, die die Millionen angeschlossenener Rechner effektiv
zu einer Gesamtbibliothek mit Fernleihe auf Tastendruck machen."(Grassmuck
(1995): 51) - online: http://www.race.u-tokyo.ac.jp/RACE/TGM/tgm.html
49. So lamentiert Bolter in seinem Buch "Writing
Space" (Bolter (1991), daß der lineare Drucktext das Heraufkommen
des elektronischen Buches nur annäherungsweise beschreiben
kann, weil der vielfach verzweigten Struktur des elektronischen
Text- Netzwerks die lineare Organisationsweise der Druckkultur mit
ihren Unterordnungen und Übergängen gegenübersteht.
Am schwersten sei ihm dabei der Rückfall vom vielstimmigen
Hypertext in die monotone auktoriale Stimme einer einzigen (Autor-)
Instanz gefallen. (ebd.:IX)
50. Dieses (vermeintliche) Ende wird in der
Nachfolge McLuhans (Mc Luhan 1968) von der aktuellen Medientheorie
besungen und teilweise auch durch die Entwicklung neuer Diskursformen
entsprechend in Szene gesetzt. (Lyotard 1982, Baudrillard 1982,
Kittler 1993, Bolz 1993, Flusser 1987, Rötzer 1991 und 1993,
Virilio 1993) - Solche "leeren Verweise" sind in digitalen Texten
nicht üblich. Während die Autoren (gedruckter) Texte sich
durch eine Überfülle von Verweisen auf 'anerkannte' Diskurse
selbst einen Autoritätszuwachs erhoffen - dieser 'hermeneutische
Zirkel' schließt natürlich auch den Leser mit ein, der
die geläufigen 'Stellen' zu kennen hat -, verzweigen digitale
Texte tatsächlich zu den entsprechenden 'Stellen'. Eine solche
radikaldemokratische Zugriffsweise auf die neuen Wissensformationen
läßt die telematischen Kulturen auch im Lichte utopischer
Gesellschaftsentwürfe erscheinen. (Vgl. Idensen, Heiko (1993).
Von den (vermeintlichen) "Bewahrern" der literalen Kultur wird auf
der anderen Seite das Aufkommen neuer Informationstechnologien als
Schreckensgespenst verteufelt. So beschreibt - am äußersten
rechten Ende des Diskursspektrums - etwa Postman (1992) die digitale
dekontextualisierte "Informationsschwemme" mit durchaus faschistischen
Metaphern als Krankheit: "Wir leiden unter einer Art von kulturellem
Aids." (ebd.:62) Nur durch die Wiedereinführung eines mythologischen
Zusammenhangs und einer 'glaubwürdigen Erzählung' könne
diese ausgemerzt werden. Wie demagogisch diese Perspektive werden
kann, zeigt die Unverfrorenheit, mit der Postman in Bezug auf den
Faschismus behauptet: "Aber wir können aus dieser deutschen
Erfahrung auch lernen, daß Kulturen auf Erzählungen angewiesen
sind." (ebd.: 62) Da lobe ich mir die Zerstreung der Erzählungen,
wie sie in der Folge postmoderner Transformationen gerade auch durch
den Gebrauch Neuer Technologien in Gang gesetzt wurde! Wie naiv
der Glaube an die Wirkungen des geschriebenen Wortes wiederum auf
einer 'anderen Seite' der Medienkritik sein kann, zeigt der Versuch
Karl Heinz Bohrers und Kurt Scheels (1993) in einer pauschalen Generalabrechnung
mit den "Propangadisten der neuen Medien" die Nicht-Existenz des
virtuellen digitalen Raumes durch eine Referenz auf eine Rezension
in einer (angesehenen) Zeitschrift zu belegen: "Cyberspace ist,
trotz der vielen adventistischen Verheißungen, immer noch
eher ein Bestandteil von Fantasy-Literatur als von Realität
(sei sie virtuell oder real).2 ( in der Fußnote heißt
es dann ganz korrekt und profan: "2 Vgl. Tom Shippeys Rezensionsessay
Inside the screen (Times Literary Supplement vom 30.April 1993):
Cyberspace (wie überhaupt 'virtual reality') 'doesn't really
exist.' " (Bohrer u.a. 1993: 745) Kein Kommentar! - Eine grundlegende
Verkennung des Kontextes neuer Medien-Theorien wird auf der nächsten
Seite deutlich: Die neuen Medien werden auf das Fernsehen als globale
Propaganda-Technologie kapitalistischer Markt- und Politik-Strategien
reduziert. (Bohrer 1993:746)
51. So zeigt dann auch ein Vergleich der Rezeption
des gedruckten Textes einerseits und der Hypertext-Version von "Writing
Space" (Bolter 1991) andererseits, daß zwischen der emphatischen
Hypertext-Theorie und der praktischen Umsetzung durchaus noch eine
große Kluft liegt. Das einfache (mediale) Umsetzen (Digitalisieren)
von gedruckten Texten in eine digitale Form ist erst der Anfang
- das Umsetzen poetischer und textueller Strategien in eine interaktive
digitale Dramaturgie - die dann auch dem Leser außer Klicken
und Scrollen entscheidende Aktivitäten ermöglichen - ist
die eigentliche Herausforderung. S.a. Riehm, U.; Böhle, K.;
Wingert, B.(1992b)
52. Dem Wechsel von der oralen zur Druckkultur
(siehe Ong 1987) steht jetzt ein nicht minder radikaler Übergang
zu einer digitalen Netzwerk-Kultur gegenüber - siehe auch Flusser
(1985), Rheingold (1991), Heim (1993). Vgl Anm. 18.
53. Gregory Ulmer (1989) umschreibt solche Diskursexperimente
ironisch als eine Fortsetzung der dekonstruktivistischen Diskurstheorien
mit medialen Mitteln und verbindet in "Teletheory" Technikkultur,
Wissenschaft, Populärkultur und Alltagsleben. Als Antwort auf
die Reduktionen (Postmans und anderer) der Neuen Medien auf die
Bild-Aspekte (des Fernsehens) sucht er nach einer neuen Praxis "elektronischen
Denkens": "I would like us to participate in the invention of a
style of thought as powerful and productive as was the invention
of conceptual thinking that grew out of the alphabetic apparatus.
I want to learn how to write and think electronically - in a way
that supplements without replacing analytical reason" (ix). siehe
auch Anm. 44.
54. So haben sich etwa innerhalb des Waxweb-
Projekts von David Blair (ein 'interkommunikativer' Film, bei dem
die Zeitachse zugunsten von Querverbindungen aufgelöst worden
ist, bestehend aus dreitausend WWW-Seiten, ca. fünfundzwanzigtausend
Hyperlinks, fünfundachzig Minuten komprimiertem Video, fünftausend
Standbildern) verschiedene autonome Arbeitsgruppen etabliert, die
unterhalb der vorgegebenen Strukturen eigene 'Räume'/Foren
aufbauen (z.B. eine 'womens's collaborative hypertext fiction working
group' oder Vorbereitungen zu elektronischen Magazinen und Konferenzen.
(bug.village.virginia.edu 7777). Für Medienforscher ist am
MIT der kooperative Konferenz- und Arbeitsraum MediaMOO verfügbar.
(purple- crayon.media.mit.edu 8888) In der mediamatic vol 8 ' 2/3
finden sich für Einsteiger 40 Seiten Ausdrucke von 'Besuchen'
in den verschiedensten Räumen des MediaMoo mit Plänen
und Hilfeseiten. Nach dem Durchqueren von Bar, Bibliothek, Theater,
Ankleidezimmern und Tanzsaal kann man in einer 'himmlischen Höhle',
die mit Papier und Schreibutensilien angefüllt ist, einen 'poetry-
generator' aktivieren: "This machine will generate truly random
poetry in an anarchist-dadaist-schizo- mental-paranoid way. Just
type in 'activate poetry generator' to switch it on." (mediamatic
8'2/3: 101) Informationen zu Web-basierten MUDs finden sich unter:
http:chiba.picosof.com/about. William Gibson
Fans dürften mit dieser Mischung aus graphischen WWW- Seiten,
auf die jetzt interaktive Eingriffe seitens der Nutzer möglich
sind, gespannt sein. The Sprawl implementiert Cyberspace-Welten
- inklusive dem Entwurf für eine neu Art der virtuellen Universität:
http://sensemedia.net/sprawl/ (siehe auch
Grassmuck (1995: 54), der auch eine Sammlung von Links zum Thema
MUDs zur Verfügung stellt: http://ww.race.u-tokyo.ac.jp/RACE/MUD/mud.html.
Ein MOO für das deleuzianische Zeitalter, für 'Körper
ohne Organe', ohne Rücksicht auf Klassenzugehörigkeit,
Rasse, Geschlecht oder Artenzugehörigkeit: CorpusFantasticaMOO.
(Vgl. Nonlocated online, map Ib)
55. Was nicht heißt, daß keine Eingriffe
von staatlichen Stellen versucht werden: etwa der Kampf gegen den
Clipper-Chip (der eine Verschlüsselungstechnologie für
die Kontrollorgane des Staates monopolisieren sollte) oder gegen
die Verfolgung von Programmierern, die Verschlüsselungsprogramme
im Internet zur Verfügung stellen zum Schutz privater Nachrichten
und Transaktionen (Pretty Good Privacy" gilt formaljuritisch als
Waffe und darf nicht exportiert werden) ... Informationen über
die Electronic Frontier Foundation: http://www.eff.org/
56. In der antiken Gedächtniskunst (Vgl.
Anm. 8) stellt sich der Redner eine Stadt vor: im Prozeß des
gezielten Umherschweifens durch Erinnerungsorte rekonstruiert er
seine Rede wieder. Das Internet selbst erscheint den Nutzern als
"Global Village", die ganze Welt letztlich als ein topographisches
Netz mit Kommunikations- und Verkehrsverbidungen analog zu dem universellen
Medium Stadt, in der sich die Menschen als Fremde - unabhängig
von Status, Geschlecht, Herkunft begegnen können. Das faszinierende
Spiel der verschiedenen Informations-Kreisläufe einer solchen
'Megalopolis' wird in vielen Spielen (z.B. Sim City) entfaltet.
Die Stadt als Benutzeroberfläche findet sich etwa in Apples
online-Service "e-world" oder auch in Entwürfen zu Bedienungsoberflächen
für interaktives Fernsehen.
57. Die 'Einwohner' können eigene Seiten
gestalten, die entweder von allen gelesen werden können oder
nur von bestimmten Gruppen - private Messages können durch
Paßwörter geschützt werden. Aus der Tradition der
Community- Networks in den USA (in den 70er Jahren) entwickelten
sich z.B. auch Netzwerk-Projekte von Obdachlosen, die auf diese
Weise ein politisches und kulturelles Forum aufbauten. Die Digitale
Stadt Amsterdam ( http://www.dds.nl/ - hat schon 10000 'Einwohner' und ca.
3000 'Besucher' pro Tag) entstand im Kontext der Hausbesetzer-Bewegung
und Medienexperimenten mit Piraten-Radios. Im Umfeld dieser Bewegungen
entstehen auch ganz 'reale' Orte, die versuchen, diesen Medien-
und Gesellschaftsutopien Raum zu geben: Cyber-Cafäs, Galerien, Clubs
... Die internationale Stadt Berlin besucht man unter: http://www.is.in-
berlin.de
58. "Denken Sie daran, daß diese Netze,
so neu sie Ihnen scheinen mögen, als eine Welt der Sprache
bereits jetzt, in ihren Anfängen, wieder bedrohtes Gebiet sind,
poetischer Regenwald. Nehmen Sie teil daran und helfen Sie tatkräftig,
ein bedeutsames, neues Reich der Sprache zu befestigen, zu kultivieren
und, in einer absehbaren Zeit, zu verteidigen. Sie sind willkommen."
(Glaser 1994: 26)
59. Eine Möglichkeit, aus diesem gedruckten
Text heraus woandershin zu kommen, liegt darin, den Computer anzuschalten
und einen WWW-Browser zu starten. Eine Home-Seite mit interessanten
Reisezielen (Verzeichnissen von Verzeichnissen, Verzeichnissen von
online-Books und Magazinen, Kunst- und Literaturprojekten, sozialen
Topographien ...) kann angefordert werden bei h.idensen@bionic.zer.de
- oder ist unter: "a.a.0." einzusehen in der Imaginären Bibliothek
http://www.uni-hildesheim.de/ami/pool/home.html:
Hier finden sich auch Umsetzungen einiger literarischer Hypertext-Experimente,
sowie einige elektronische Essays von PooL-Processing. Im Kontext
der jährlichen Tagungen "HyperKult" an der Universität
Lüneburg erscheint eine Hypertext-CD-ROM, die die meisten der
hier angesprochen (deutschsprachigen) Hypertexte enthält. (Information
über Martin Schreiber: 04131-714472)