Hypertext als Spiel

Der Hypertext erscheint uns als ein Palimpsest, das in verschiedene Segmente unterteilt ist. Das Palimpsest dient als Modell künstlerischer Praxis, um das Reale, das Imaginäre und das Fiktive - um die Begriffe Isers hier zu verwenden - zu einem einheitlichen Gesamtbild zusammenzufügen. Durch die überwältigende Masse an Zeichen, die uns heute überschwemmt, sind wir gefordert eine neue Technik der Rezeption zu entwickeln. Für das Lesen von Hypertexten bedeutet dies, eine Loslösung von einer einzigen linearen Form des Lesens hin zu vielen parallelen Möglichkeiten und immer wieder neuen Kombinationen und Assoziationen. Selbst wenn "unbegrenzte Verweise" denkbar wären, sind diese doch auch in einem Hypertext von einem oder mehreren Autoren fixiert und begrenzt worden.

Dies geschieht natürlich schon allein unter Gesichtspunkten der Rezeption, also der Verständlichkeit der möglichen Texte. Führt ein link allerdings aus dem eigenen Hypertext hinaus, sind die weiteren Lesepfade von anderen Autoren angelegt und nicht mehr kontrollierbar. Dies führt zu der typischen Erfahrung eines WWW-Nutzers, der z.B. in Berlin einen Text auf dem Server zu lesen begonnen hat, sich aber plötzlich auf einem Server in den USA oder in Australien wiederfindet. Also: zu Diskontinuität beim Lesen.

Wie sieht es aber mit dem anderen Aspekt von Spiel, dem regelgeleiteten und zielgerichteten Spiel aus? Dadurch, daß der Leser bei der Analyse eines Textes den Produktionsprozeß nachvollziehen muß, überschneiden sich Produktion und Rezeption. Der Lesevorgang setzt die aktive und kreative Mitarbeit des Lesers voraus. Dessen Kooperation wird durch Spielregeln gelenkt. Natürlich wird ein Leser, zielbewußt auf der Suche nach einer bestimmten Information, selbst versuchen, Diskontinuität beim Lesen zu vermeiden und links folgen, die aufgrund ihrer Bezeichnung sinnvoll erscheinen und andere vermeiden.

Ebenso gibt es aus der Perspektive eines Autors von Hypertexten sehr wohl Regeln, die zu befolgen sind und die sich als Tips im Internet oder als persönliche Empfehlungen weiterverbreiten. Also Regeln, auch wenn dieses neue Medium als so demokratisch oder sogar anarchisch gefeiert wurde, von der Gestaltung eines Hypertextes bis hin zur Nettiquette, Verhaltensregeln für e-mail Korrespondenz, Chatgruppen u.ä. Beide Aspekte von "Spiel" - also sowohl das freie Spiel als auch das regelgeleitete Spiel - finden sich sowohl bei der Rezeption als auch bei der Produktion von Hypertexten wieder. Dabei ist durchaus zwischen verschiedenen Rezeptionshilfen zu unterscheiden - im Hypertext als Navigationshilfen beschrieben. Die zuvor genannten sind Hilfen, sind Hilfen, die durch einen Autor des Hypertextes vorgegeben werden. Diese sind durchaus vergleichbar mit Rezeptionshilfen im traditionellen Text, wie Überschriften, Absätze u.a. Gliederungssignale wie z.B. auch Seitenzahlen, die im neuen Medium Hypertext verschwinden.

Davon zu unterscheiden sind die Navigationshilfen, die das System selbst anbietet. "Die Spielregeln werden ihm [dem Leser] dabei mit technischem Nachdruck ins Bewußtsein gehoben" (Hess-Lüttich 1997: 75). Der neue Netscape Communicator z.B. markiert einen link nicht nur durch Unterstreichung, sondern, sobald man mit der Maus auf das markierte Element fährt, erscheint in einem Fenster die Bezeichnung des chunks, zu dem uns dieser link führt. Ähnliche systemeigene, vom Autor nicht zu verändernde Rezeptions- oder Navigationshilfen kannten wir im Zusammenhang mit dem Medium Buch nicht. Ein dritter Aspekt sind die vom Leser individuell selbst angelegten Navigationshilfen, wie z.B. markieren eines chunks durch sogenannte bookmarks beim Nutzen des WWW oder markieren mit der Maus in einigen Hypertextprogrammen, was zu einer Markierung, vergleichbar der mit Textmarker im traditionellen Medium, führt.

Ein Aspekt, der bisher unerwähnt geblieben ist, ist das Zufallsprinzip, auf dem viele Spiele aufbauen. Dieses kann hier eine positive Rolle spielen, wie das unvorhersagbare Klicken eines Lesers in einer Hypertextumgebung diesen zu völlig neuen und unerwarteten Erkenntnissen führen kann. Aber dieses ist natürlich ein Idealfall. Das Zufallsprinzip kann einen Leser natürlich genauso im Kreis führen, oder sogar ganz weg von dem ursprünglichen Thema.

Zusammenfassend: Das Konzept eines Konstruktionsspiels ist für die Loslösung von einer einzigen linearen Form des Lesens und Schreibens hin zu vielen parallelen Möglichkeiten und immer wieder neuen Kombinationen grundlegend. Das Konzept des Spiels als Set von Bausteinen und Regeln, ist wesentlich für die Gestaltung von Hypertexten und für das Agieren mit diesen.

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