"Es kann zur Erhellung eines allgemeinen Poesiebegriffs beitragen, wenn man zunächst zwischen natürlicher und künstlicher Poesie unterscheidet. In beiden Fällen arbeitet man mit Worten, ihren Derivationen, die als Deformationen in Bezug auf einen zugrundegelegten Wortraum gedeutet werden können und ihren Folgen, die linear oder flächig angeordnet sind. Für unsere Gesichtspunkte bleibt jedoch die Differenz in der Art der Entstehung das Wesentliche.
Unter der natürlichen Poesie wird hier die Art von Poesie verstanden, die [...] ein personales poetisches Bewußtsein [...] zur Voraussetzung hat ein Bewußtsein, das Erlebnisse, Erfahrungen, Gefühle, Erinnerungen, Gedanken, Vorstellungen einer Einbildungskraft etc., kurz eine präexistente Welt besitzt und ihr sprachlichen Ausdruck zu verleihen vermag. [...] Das poetische Bewußtsein in diesem Sinne ist ein prinzipiell transponierendes, nämlich Seiendes in Zeichen, und den Inbegriff dieser Zeichen nennen wir Sprache, sofern sie metalinguistisch eine Ichrelation und einen Weltaspekt besitzt. In dieser natürlichen Poesie hört also das Schreiben nicht auf, eine ontologische Fortsetzung zu sein. [...]
Unter der künstlichen Poesie hingegen wird hier eine Art von Poesie verstanden, in der es, sofern sie z.B. maschinell hervorgebracht werde, kein personales poetisches Bewußtsein [...], also keine präexistente Welt gibt, und in der das Schreiben keine ontologische Fortsetzung mehr ist, durch die der Weltaspekt der Worte auf ein Ich bezogen werden könnte. Während also für die natürliche Poesie ein intentionaler Anfang des Wortprozesses charakteristisch ist, kann es für die künstliche Poesie nur einen materialen Ursprung geben".
Max Bense: Über natürliche und künstliche Poesie. In: Theorie der Texte. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1962, S. 143 ff. - An weiteren Unterschieden seien noch genannt die Interpretierbarkeit der "natürlichen" und die Nichtinterpretierbarkeit der "künstlichen Poesie", der "Modus der Willkürlichkeit" für die "natürliche" und der "Modus der Unwillkürlichkeit" für die "künstliche Poesie".
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