Narrativer Raum

Raum ist die zentrale Kategorie in Computerspielen. Die erste Frage eines jeden Spielers lautet "wohin nun" und nicht "was geschieht als nächstes". In den konstruierten Welten der Computerspiele sind Informationen ebenso wie Erfahrungen an Orte gebunden. Was bedeutet dies für den narrativen Raum eines Computerspiels? Spielt die Kategorie Raum eine ungleich wichtigere Rolle als die Kategorie Zeit?

Genettes Unterscheidung zwischen discours und récit ist grundlegend für die Beschreibung des narrativen Raumes. Während der discours oder diskursive Raum linear ist, da er auf dem Linearisierungsprozeß der Sprache basiert, ist der narrative Raum des récit hingegen unabhängig von dieser Einschränkung. Narrativer Raum entsteht durch Techniken wie z.B. Intertextualität und rhizomatische Verflechtung. Diese erreichen eine Simultanpräsenz zwar nicht materiell aber imaginär.

Computerspiele benutzen narrative Techniken, um ihre Welten zu organisieren. Semiotische Strukturen werden dabei auf das Spiel projiziert, um eine mögliche Welt entstehen zu lassen. Dies führt häufig - wie auch im Falle von Myst - zu einem Spiel mit traditionellen literarischen Motiven und Metaphern von Raum und Zeit. Abhängig von den Reaktionen des Spielers eröffnet der Computer weitere hinzuerfundene Räume, weitere Bilder und Texte. Während ein gedruckter fiktionaler Text seine Episoden in einer feststehenden Reihenfolge anbietet, hebt der digitale Raum diese Restriktionen auf und eröffnet auf diese Weise weitere abstrakte Ebenen. Die Bewegung zwischen den einzelnen Episoden und Räumen ist abhängig von den Interaktionen des Spielers und seinem Eindringen in den bereitgestellten Raum des Spiels, so daß die "Lese"-Erfahrungen der Spieler von den jeweiligen Entscheidungen und Interaktionen abhängig sind.

Diese Interaktion zwischen Autor bzw. Programmierer und Spiel und Leser bzw. Spieler und dem Spiel erinnert an Bachtins dialogisches Konzept oder Kristevas Konzept der Intertextualität, der Grundlage für die Dimensionalität des narrativen Raumes. Intertextualität läßt einen dynamischen Raum entstehen, der als Bewegung zwischen Autor, Leser, Text und Intertext verstanden werden muß. Als Intertexte für Myst fungieren fiktionale Werke wie z.B. das Märchen sowohl in seiner traditionellen Form als auch in seinen modernen Formen wie z.B. Phantastische Literatur und Science Fiction.

Die Raummotive in Myst zitieren literarische Vorläufer. Ein Labyrinth in Form einer U-Bahn erinnert sowohl an das Labyrinth des Minotaurus als auch an die technische Ausstattung eines Science Fiction Romans oder Films. Die Bibliothek und die Bücher erinnern an Borges oder Ecos Bibliotheken; aber ebenso an die Welt der Bücher und des Geschichtenerzählens allgemein. So werden z.B. Brunnen in Myst verwendet- die zur Standardausstattung einiger Märchen - und zwar in genau dieser märchenhaft mythischen Funktion. Sie werden als Übergangsmedien zwischen den Welten oder aber als Versteck einer Botschaft eingesetzt. Nicht zuletzt seien noch die Baumhäuser erwähnt, die in Calvinos Barone rampante ebenso mit der Funktion, eine eigene Welt zu schaffen, in der eigene Regeln gelten, leitmotivisch eingeführt werden.

Neben dieser intertextuellen Verwendung von Raummotiven in Myst werden diese vor allem als Medien der Orientierung und Desorientierung eingesetzt. Hierfür seien einige Beispiele genannt: eine Karte zusammen mit einem schmalen Fenster oder Guckloch fungieren als Führer zur Insel. Beide sind Hinweise, wo die Eingänge zu den verborgenen Welten versteckt sind und dienen somit der Orientierung des Spielers.

Medien der Orientierung erscheinen einem Spieler, der sie nicht anzuwenden weiß als Medien des Desorientierung. Dies geschieht im Labyrinth der U-Bahn, wenn der Spieler den Hinweis über zu wählenden Richtungen nicht findet. Die Fähigkeit der mentalen Rekonstruktion ist notwendig, um eine kognitive Karte der geometrischen Relationen der einzelnen Teile des Spiels zu erstellen. Solche räumlichen Konzeptualisierungen (vgl. Cybertextspace) des Spiels sind erforderlich bei dessen Lösung, besonders wenn bereits durch die Programmierer Medien der Orientierung angeboten werden. Das "Lesen" eines Computerspiels ist also nicht nur eine Konstruktion von Bedeutung auf der Grundlage der zeitlichen Erfahrung eines Spielers sondern die mentale Re-Konstruktion eines Modells der Architektur des Spiels und damit seiner Repräsentation.

Als mise en abîme, einer weiteren räumlichen Dimension des Spiels wird das Motiv des Buches eingesetzt. Mit Hilfe von Büchern kann der Leser sich im Spiel orientieren, denn in ihnen sind die Hinweise enthalten, die zu einer Lösung des Spiels führen. Zusätzlich fungiert das Buch allerdings als Vermittler und Transportmittel zwischen den und in die narrativen Welten und ist somit nicht nur Motiv sondern außerdem Metapher: Das Buch als Eingang. Jedes Buch fungiert auch in seiner traditionellen Form als Interface zwischen Leser und Textwelt. Im Falle von Myst wird das Interface verdoppelt. Die Interfaces des Mediums Computer sind Maus, Tastatur und Bildschirm. Das Buch als zusätzliches Interface betont die narrative Funktion des traditionellen gedruckten Mediums.

Der narrative Raum von Myst verwendet alt vertraute narrative Räume und Motive in einem dynamischen und interaktiven Medium in mimetischer Weise. Diese müssen vom Spieler ebenso interpretiert und "gelesen" werden, wie Wörter in einem geschrieben Text. Der Leseprozeß ist abhängig vom jeweils zugrundeliegenden Programm. Im Computerspiel führt dies zum Navigieren oder "Reisen" des Lesers. Die Metapher der Navigation verdeutlicht, daß der statische Aspekt, der mit Raum verbunden ist, mit der Dynamik der Zeit in Verbindung gesehen werden muß.

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